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Vorträge


Reinhard Braun
Zwischen Reality Soap und Dokumentarfilm: Wirklichkeit als Produkt?

01: Das 'Konstrukt' steht im Zentrum der Aufmerk-samkeit: Machen, Lesen, Schrei-ben und Bedeuten scheinen fast dasselbe zu sein. (Donna Haraway)

02: Ebenso wie die virtuellen Klangobjekte in der Sampler-Musiktechnologie ist die Subjektivität heute ein gasförmiges Element, das sich ausdehnt und zusammenzieht, zeitgedehnt, überblendet, klangbeschleunigt. (Arthur & Marielouise Kroker)

03: Diese Bilder aus meinem wirklichen Leben sollen mich glauben machen, daß mein wirkliches Leben irgendwie etwas mehr ist, heller, mehr schöne Momente hat als in Wirklichkeit. Ich muß mich selbst davon überzeugen ... (Jack Pierson)

04: Seit der exponentiell gesteigerten Verfügbarkeit aller Formen von Kommunikation mussten die "Unterhaltungs"-Medien dazu herhalten, dem Einzelnen Erfahrungs-modelle, Gelegenheiten zur Selbsterkenntnis sowie Elemente der Identität zu liefern ... (Warner Communications 1977)

05: Was geschieht mit einem Lebewesen, das in einer Welt leben gelernt hat, in der nicht die Natur technologisiert wurde, sondern in der Technologie Natur ist, in der die Grenzen zwischen Subjekt und Umwelt zusammenge-brochen sind? (Allucquere Roseanne Stone)

06: Realität ist, was man dazu macht. (Thomas Rottenberg)

07: Wo wir kein Medium entdecken, durch dessen Brille wir sehen, fühlen wir uns hintergangen, weil wir schon nicht mehr glauben, noch unvermittelt wahrnehmen zu können. (Hans Belting)

08: Wir leben in einer Welt (...), in der die höchste Funktion des Zeichens darin besteht, die Realität ver-schwin--den zu lassen und gleichzeitig dieses Verschwinden zu maskieren. (Jean Baudrillard)

09: Die Kopplung zwischen Mensch und Fernsehen wird offensichtlich nicht mehr als Dissonanz zwischen 'natürlicher' und technisierter, verfremdeter Wahrnehmung empfun-den, im Gegenteil: Eine be-reits perfekt funktionierende Konsonanz des menschlichen Bewußtseins mit dem Fernsehen verhindert die Erfahrbarkeit des Phänomens, daß Kopplung überhaupt stattgefunden hat. (Monika Elsner, Thomas Müller)

10: Die Frage lautet also nicht, was ist der Fall, was umgibt uns als Welt und als Gesellschaft. Sie lautet vielmehr: wie ist es möglich, Informationen über die Welt und über die Gesellschaft als Informationen über die Realität zu akzeptieren, wenn man weiss, wie sie produziert werden.
Die Lösung des Problems kann nicht, wie in den Schauerromanen des 18. Jahrhunderts, in einem geheimen Drahtzieher im Hintergrund gefunden werden (...). Wir haben es (...) mit einem Effekt der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft zu tun. Man kann ihn durchschauen, man kann ihn theoretisch reflektieren. Aber es geht nicht um ein Geheimnis, das sich auflösen würde, wenn man es bekannt macht. Eher könnte man von einem 'Eigenwert' oder einem 'Eigenverhalten' der modernen Gesellschaft sprechen - also von rekursiv stabilisierten Funktoren, die auch dann stabil bleiben, wenn ihre Genetik und ihre Funktionsweise aufgedeckt sind. (Niklas Lumann)

11: Es ist gerade die Vorstellung der 'Normalität', die uns unterwirft. (Steven Shaviro)

12: Die Medien sind der Stoff, aus dem die Konflikte sind. (Douglas Rushkoff)


Das Terrain von Wirklichkeiten
Was bringt uns also dazu, Quotenbringer und Seifenopern in ein gemeinsames kulturelles Terrain zu stellen wie den Dokumentarfilm? Handelt es sich dabei um eine mäßig witzige Finte eines Autors, der nichts besseres zu tun hat, als ständig irgendwelche Dinge miteinander in Beziehung zu setzen und zu schauen, was dabei herauskommt?

Nehmen wir es also vorweg: im Spannungsfeld zwischen dokumentarischen Ansätzen und fernsehökonomischen Strategien erscheint ein kultureller Untoter, von dem eigentlich niemand mehr sprechen mag, der aber ständig aus dem Hut gezaubert wird, wenn es darum geht, Medienstrategien, politische Strategien oder auch künstlerisch/kritische Strategien nicht zu rechtfertigen, aber gewissermaßen kulturell zu fundieren. Wir sprechen über eine massiv feststellbare Re-Stilisierung von Wirklichkeit, von Authentizität, dem wirkichen Leben, von 'reality checks', von direkter Erfahrung. Nun kann man sagen, dass hat mit unserer massiven Entfremdung im Alltagsleben zu tun, wen wundert's, und wir können beruhigt, oder auch irritiert, jedenfalls mit eine guten Begründung in der Tasche nach Hause gehen.

Ja, aber was passiert mit diesem Gegenmodell zu einer mediatisierten, entfremdeten, beschleunigten Flexibilisierung im Rahmen einer Medienkultur? Allein die beruhigende Gewissheit, da existiert etwas wie Wirklichkeit, es strengen sich ohnehin genug Experten, Künstler und Filmemacher dahingehend an, sie sichtbar zu machen, zu entbergen, ihren eigentlichen Sinn zugänglich zu machen und zu vermitteln - allein diese beruhigende Gewissheit fällt es nicht schwer, als einen Aspekt moderner, liberaler Steuerungs- und Disziplinierungstechniken unserer westlichen Gesellschaften zu beschreiben.

Keine Angst, es folgt keine Brandrede kritischer Theorie, keine Stigmatisierung der Kulturindustrie oder der Kulturgesellschaft. (Oder vielleicht doch?) Es geht aber um die dünnen, nichts desto trotz wirksamen Fäden, die uns mit dieser Disziplinierung, Steuerung und Kontrolle verbinden, eine Verbindung, die ich geneigt bin, als komplizenhaft zu beschreiben. Denn: Wollen wir nach einem harten Arbeitstag die 'Dissonanz zwischen 'natürlicher' und technisierter, verfremdeter Wahrnehmung' empfinden? Wollen wir nicht vielmehr die 'funktionierende Konsonanz des menschlichen Bewußtseins mit dem Fernsehen' genießen? Müssen wir sie nicht genau unter der Voraussetzung genießen, diese Koppelung brächte uns in vielerlei Gestalt etwas näher, was wir immer noch geneigt sind, als Wirklichkeit zu bezeichnen?

Wirklichkeit hat nichts damit zu tun, wie die Dinge ausschauen mögen - ah, der Grand Canyon sieht toll aus, und erst der Großglockner! Wirklichkeit bezeichnet die Zusammenhänge, den diese Dinge eingehen, eingehen können, nicht eingehen können, nicht eingehen dürfen: wir sprechen von Bedeutungen, von kulturellen Bedeutungen. Ist es jetzt wirklich so, dass zu viele AusländerInnen in Österreich leben? Wie lässt sich da ein 'reality check' organisieren? Gibt es davon Bilder? Ist es sinnvoll, darüber über Bilder zu kommunizieren?

Mit dem Fantasma der Wirklichkeit ist unauflöslich das Fantasma einer Bildlichkeit der Welt verbunden. Und da sind wir wieder beim Thema.

Insert 01: Ausschnitt aus Rainer Frimmel: Nachrichten aus dem Tiefparterre, A 2000

Wien, Tiefparterre.
Es ist offensichtlich, dass in diese Selbstdarstellung zahllose Medienformatierungen und Stilisierungen eingebaut sind: Welches Publikum wird hier imaginiert? Ich denke nicht, dass es allein die Tochter und die Verwandten oder Freunde sind. Ich denke, allein der Umstand, sich einem bestimmten Medienformat auszusetzen bedeutet schon, dessen Dispositive mitzureflektieren: warum dokumentieren? Warum nicht miteinander sprechen? Wieso wird die Kamera zu einem Geheimnisträger, werden ihr sozusagen Dinge erzählt, die zu intim, zu ehrlich, zu peinlich sind, um sie jemandem persönlich zu sagen, wo doch das Medium gerade auf das Veröffentlichen, das Vorführen und Herzeigen dieser Nachrichten abzielt? Nach dem Tod? Was hätte dann diese Katharsis für einen Sinn, bringt sie doch ein Subjekt nicht mit anderen Subjekten ins Reine? Warum spricht man überhaupt von Katharsis angesichts eines technischen Apparats, wenn dieser nicht prinzipiell subjektiviert worden wäre, um als Gegenüber zu fungieren?

Man sieht schon: Theorie ist eine Sache. Wie diese Dinge kulturell verarbeitet, implementiert und in Alltagszusammenhängen wirksam werden, eine andere. Ich würde jedenfalls behaupten, dass sich die Stärke dieses Films gleichzeitig mit seiner großen Schwäche zur Deckung bringen lässt: die Formatierungen, von denen die Rede war, bleiben ungerahmt als solche stehen. Ich nenne das Entmediatisierung: Die Schnittfläche, diese mehr oder weniger objekthafte und apparatehafte Schnittstelle und Projektionsfläche - die ein Medium, zumal ein Bildmedium nunmal ausmacht - wird in ihrer Funktionalität zum Verschwinden gebracht, ausgeblendet, und muss erst wieder in einer Rekonstruktionsarbeit, die man nun Theorie nennen mag oder nicht, zum Vorschein gebracht werden. Wo wir aber auf den ersten Blick kein Medium entdecken, werden wir - und ich würde meinen: zu Recht - misstrauisch.

Warum ich die Medialität dieser Bildproduktionen unbedingt mitsehen möchte? Weil es meines Erachtens nur dadurch deutlich wird, dass es sich auch dabei - bei dieser quasi authentischen, unmitelbaren, direkten Begegnung von Kamera und Subjekt - in jedem Fall um eine Konstruktion handelt, um Zugriffe auf Wirklichkeiten, die über Medien stattfinden und durch diese vermittelt werden. Ich möchte kein Bild der Wirklichkeit sehen, weil es ein solches oder solche nicht gibt. Ich habe keine Sehnsucht nach einem gewissermaßen archimedischen Punkt, an dem kulturelle Kräfteverhältnisse sozusagen in einem wahren, wahrhaften Produkt (the real thing, wie sich Coca Cola beschreibt) - wenn auch nur temporär - stillgestellt sind. Etwas wie Wirklichkeit entzieht sich der Manipulation, dem Schein, dem Trugschluss, und wird so zu einer schalen Währung kultureller Austauschverhältnisse. Indem Medien als Wirklichkeitslieferanten -- und nicht als Wirklichkeitsgeneratoren - zum funktionieren gebracht werden, entziehen sie sich gleich jeder Kritik mit: was könnte es dagegen zu sagen geben, die Wirklichkeit darzustellen, aufzuzeichnen und wiederzugeben.
Ich reduziere das sehr bewußt auf eine etwas naive Konstruktion, um die Problematik der ganzen Sache auf den Punkt zu bringen: Ich kann mir keine Objekte, Handlungen, Ereignisse, Geschichten usw. vorstellen außer jene, die durch ganz bestimmte Machtverhältnisse, Kontrollverhältnisse, Interessenslagen, Normen und Wertesysteme zusammengezimmert werden. Ich kann mir Wirklichkeit wirklich nicht anders vorstellen, denn als Konstrukt. Und ich kann nicht sehen, inwiefern Bilder, ikonisch oder nicht, davon ausgenommen werden könnten.

Und der Dokumentarfilm ist dafür das beste Beispiel: durch verschiedene filmische Mittel wird eine Geschichte, ein Eregnis, ein kultureller Zusammenhang hergestellt, er wird in der Sprache des Films (oder des Video) rekonstruiert. Übersetzungs- und Interpretationsleistungen finden statt. Ich bin als Rezipient in einer Position zu dieser Erzählung womöglich mitgedacht, ich kann einen Standpunkt einnehmen. Von der Wirklichkeit kann ich mich nur beherrschen lassen, indem ich zustimme: ja, so ist es, oder: ja, so ist es gewesen. Punkt.
Interessanterweise wurde dieses Jahr auf der Duisburger Filmwoche ein Beitrag wie 'Enter' von Veit Bastian, ein Episodenfilm über Los Angeles, der die Stadt anhand von Beispielen extremer Berufs- und damit Randgruppen zu porträtieren versuchte, recht intensiv über seine formale Struktur befragt. Es gingen scheinbar alle davon aus, dass dieses punktuelle Belichten von sozialen Gruppen keine Geschichte zu erzählen imstande ist. Und ein Vorwurf, der hier nicht repräsentativ, aber symptomatisch verstanden werden soll, war derjenige der Oberflächlichkeit der Bilder. So. Gibt es über Los Angeles aber überhaupt Geschichten zu erzählen in dem Sinn, dass damit auch etwas über die Stadt ausgesagt werden könnte? Funktionieren soziale Maschinen wie Geschichten? Hat ein Tag einen Anfang und ein Ende wie ein Film? Und was hat es mit der Oberflächlichkeit der Bilder auf sich? Es scheint jedenfalls, als würde gewissen formalen oder ästhetischen Organisationsweisen von Bildern nicht zugetraut werden, eine Tiefe zu besitzen, d. h. von etwas zu erzählen, das sozusagen hinter den Bildern liegt, zumindest aber durch die Bilder irgendwie bezeichnet werden könnte. Sie erahnen es bereits: es ist einmal mehr von Wirklichkeit die Rede. Wenn die filmische Wirklichkeit Wirklichkeit wird, verschwindet also die Wirklichkeit.
Interessant ist hier jedenfalls die Deutlichkeit, mit der ein visueller Diskurs über Wirklichkeit als ein kultureller Diskurs über die Bedeutungsmöglichkeiten von Bildern daherkommt. Was die Sache eigentlich auf den Punkt bringt. Punkt.

Found Footage
Wir kennen das alle vom Film, vom Fernsehen: alltägliche Katastrophen, Mißge-schicke, geschichtsträchtige Ereignisse, Nebensächliches, aber lustiges, und wir alle sind uns - zurecht - der Skepsis gewahr, mit der wir diese Film/Video-Fragmente betrachten: das kann doch nicht alles wahr gewesen sein. Wir reagieren in post-modern adaptierter Manier auf ein vollständig codiertes, überdeterminiertes Medienphänomen. "Realität", "Alltag" sind zu einer medienimmanenten, operativen Figur im Rahmen des visuellen Systems Fernsehen mutiert, wir sind an "Reales" vor allem über Mediensysteme ange-schlossen. Wenige Anzeichen - schlechter Ausschnitt, wackelige Kamera, etwas überbelichtet, leicht unscharf, schlechter Ton, keine Schnitte - genügen, um "Realität" als, Douglas Rushkoff würde sagen: Medienvirus, unserer Wahrnehmung zu implantieren.
Es spielt aber gar keine Rolle, ob dadurch so etwas wie "Wirklichkeit" bezeichnet wird (oder überhaupt werden kann): diese Sequenz funktionieren einfach als Zeichen für Wirklichkeit - ein Zeichen, das wir zu recht hinterfragen. Nur führt diese Frage zu keinem Ergebnis. Entscheidend ist nicht der Umstand, ob es so gewesen ist, sondern warum und wie das Ganze als Wirklichkeitsfragment funktioniert. Es kann nur wiederholt werden: "Wirklichkeit" ist längst ein Zeichen-system, ein Informationsgehalt. Wirklichkeit funktioniert, und hört nicht auf zu funktionieren, wenn ihre Funktionsmechanismen durchschaut sind. Da geht es ihr ganz wie den Medien.

Halten wir also fest: Fernsehen ist eine paradoxe Wirklichkeits- und Authentizitätsmaschine geworden, durch die sich Alltag und Mediendrama, Kontingenz und Inszenierung, Authentizität und Fiktion einander annähern und immer ununterscheidbarer werden.

Insert 02: 5 Minuten "Taxi Orange", ORF 2000

Der Kutscherhof
Zitat Siegfried Schmidt: "Der entscheidende Punkt kultureller Veränderung in und durch Medien in unserer Gesellschaft scheint mir aber darin zu liegen, dass Medien die Beobachtungsverhältnisse intensivieren und steigern. Dadurch wird Kontingenzgewissheit zu einem unveräusserlichen Teil kollektiven Wissens. Dass wir (...) offensichtlich nicht in einer, sondern in vielen Wirklichkeiten leben und alle Ansprüche an letztgültige Wahrheiten aufgeben können, wird heute zur täglichen Erfahrung aller Mediennutzer mit allen daraus resultierenden Konsequenzen." Und weiter: " Medien beeinflussen die Entfaltung von Öffentlichkeit, und zwar in erster Linie über eine Veränderung der Beobachterverhältnisse in der Öfentlichkeit."

Beobachtungsverhältnisse ist kein schlechtes Stichwort sowohl für Dokumentarfilme wie für Reality Shows. Entbergen, zum Vorschein bringen - das Projekt der Aufklärung kommt zu keinem Ende. Und gar nicht uninteressanterweise ist das Projekt der Aufklärung nicht nur eines der Wissenproduktion und Wissensvermittlung, sondern ganz massiv eines der Herrschaft und Kontrolle. Ein Verstehen von Wirklichkeiten, oder besser gesagt: von kulturellen Verhältnissen hat noch nie um seiner selbst Willen stattgefunden. Heute geht es halt nicht mehr um die panoptische Figur des Gefägnisses als Disziplinierungs- und Besserungsanstalt; heute geht es um Zielgruppendefinitionen, um Konsumentengruppen, um Zielgruppenbindung. Man sollte sich davor hüten, Konsum als Merkmal von Freiheit misszuverstehen. Man kann ihn geniessen, aber man soll ihn nicht verniedlichen.

Kommen wir aber vorerst nochmals auf Oberflächen zurück, sprechen wir kurz noch einmal über Bilder und ihre Erzählungen.

Es gibt heute keine eindeutige Möglichkeit mehr, anhand der Oberflächengestalt der Bildschirm-Bilder auf den 'Realitätsgehalt' dieser Bilder zurückrechnen. Die Bilder der audiovisuellen Medien resultieren aus hochgradig konstruktiven Vorgänge. Auch wo scheinbar nur die 'Kamera draufgehalten wird', sind komplexe Selektions- und Inszenierungsprozesse am Werk, bis ein Bild als Medienangebot erscheint.

Fernsehen verwandelt also Kontingenz in Sinn, Fragmente in eine zusammenhängende Erzählung, dank der die Welt nicht völlig auseinanderfällt in gegensätzliche und inkompatible Bruchstücke. Wirklichkeit, der Realitätsgehalt der Bilder ist genau eine solche Erzählung, die immer wieder zusammengestoppelt wird - das Resultat von komplexen Selektions- und Inszenierungsmechanismen. Die Einübung von derartigen Medienformaten bereitet damit sozusagen die Orientierungs-möglichkeiten im Rahmen alltäglicher Diskontinuitäten vor. Es ist nicht mehr die Politik, die die Gesellschaft zusammenhält, es sind die Massenmedien, es sind Organisationsformen von 'Material', wie wir sie aus den Massenmedien kennen.

Zitat Hartmut Winkler: "Das Versprechen von Totalität also stützt sich auf die Re-Inszenierung einer scheinbaren Selbstverständlichkeit, auf die Inszenierung der räumlichen Kontinuität, und macht diese räumliche Kontinuität zu einem ideologischen Bild für eine Welt, die auf solche Gesamtansichten angewiesen ist."
Die räumliche Kontinuität: das Containerdorf von 'Big Brother' wie der 'Kutscherhof'. Die Re-Inszenierung der scheinbaren Selbstverständlichkeit muss nicht analytisch zu Tage gefördert werden: mehr scheinbare Selbstverständlichkeit kann auf der Oberfläche von Bildern gar nicht mehr untergebracht werden, ohne das sie als Fiktion - die sie letztlich ist - zusammenbricht. Und wie hat schon Siegfried Kracauer in den 40er Jahren über den Film gesagt: " Man ist gleichsam wie der liebe Gott, der alles sieht, und man hat ein Gefühl, dass einem nichts entgeht und dass man alles erfasst (...)" Was, wie man zugeben muss, im eigenen Leben meisst nicht der Fall ist.

Es ist also zu fragen, inwiefern Medienformate und Wirklichkeitserfahrung immer mehr zusammenfallen. Ist es dann in diesem Zusammenhang überhaupt noch zulässig, von Entfremdung zu sprechen, die uns an einem Ende, die Medien in der Mitte, und die Wirklichkeit am anderen Ende positioniert?
Oder muss man nicht längst von Symbiose sprechen? Leben wir aber dann nicht schon mitten in der medienkulturellen Apokalypse, wie es vielen erscheint? Diese Apokalypse, wenn man sie denn als solche bezeichnen will, hat aber einen Namen: Konsumkultur.

Dramatisierung des Alltags als Warenstrategie
Zunächst Kathryn Zechner: "Die Herausforderung von neuen, erfolgreichen Formaten liegt für mich darin, eigene Programmfarben innerhalb eines Genres zu finden. Was mich am Konzept reizt, ist die lebensnahe Aktion unserer Kandidaten, die sich bewähren müssen im urbanen Alltag. Und zwar nicht nur im Zusammenleben, sondern in einer der entscheidendsten Lebenssituationen für junge Leute - einer Unternehmensgründung. Der Schritt in die Selbständigkeit ist Ausdruck des Wechsels von der 'no future' zur 'future'-Generation." Worauf Siegfried Schmidt antworten würde: "Massenmedien wirken sich als Komponenten moderner Gesellschaften folgenreich aus auf die Selektion, Thematisierung und Gewichtung kulturellen Wissens."

Christian Metz sagt, dass wir überhaupt nur Subjekte sind, insofern wir an den "Instanzen des Sichtbaren" teilhaben, Lacan spricht davon, dass jede Repräsentation durch Blickregimes definiert ist und die Subjekte Projektionen, Konstrukte imaginärer Einheiten. Alle Bilder, die wir uns von uns selbst und unseren Welten machen, sind also immer schon von äußeren, externen Blickpunkten mitbestimmt, weshalb Flusser davon sprechen konnte, dass wir in Funktion der Bilder leben, und Roland Barthes davon, dass wir "nur als Bild erscheinen oder zum Vorschein gebracht werden", oder, wie es Herta Wolf und Michael Wetzel ausdrücken, wirklich nur ist, was sich durch ein Repräsentationssystem generieren lässt.
Indem visuelle Medien die Organisation von Sichtbarkeiten bestimmen, in die wir als Subjekte eingeschrieben sind, sind wir immer schon Teil der Bilder und deren Realität - und als deren Teil unterliegen wir ihren Dramatisierungen des Alltags, der Übersetzung von Alltag in Medienformate, wodurch wir beginnen, unseren Alltag immer mehr unter Fernsehformen wahrzunehmen - noch ein Grund dafür, dass unser Leben zu einer Reality Soap wird? Oder gerät es nicht vielmehr zu einer Warenform?

Insert 03: dogfilm, Berlin: Soap Around the World, D 1997, Teil 1: Los Angeles

Egal, welche Erzählungen konstruiert werden, welche "Inhalte" inszeniert, bearbeitet oder vermittelt werden - Fernsehen besitzt als Massenmedium, als Form struktureller Koppelungen von kulturellen Gruppen und Individuen soziale und kulturelle Relevanz, synchronisiert Vorstellungen, Werte, Normen, Identifikationsmuster und ähnliches mehr. Fernsehen ist selbst dann präsent, wenn alle Fernseher abgeschaltet sind, wie das schlechte Gewissen, Religion und Übergewicht. In zunehmendem Maße erhalten nur jene "Sachverhalte" den Status von "Sachverhalten", wenn sie über mediale Kanäle produziert, reproduziert und in Umlauf gebracht werden können. Individuelle Kommunikation, persönliche Erfahrung hat den Vorteil, "real" zu sein, allerdings den Nachteil, sich nicht ohne weiteres in Medienkreisläufe einschleusen zu lassen, irgendwie nicht in die Instanzen des Sichtbaren vorzudringen. Lässt sich reale Erfahrung nicht durch mediale Info-Diskurse gegenchecken, verliert sie sich in sozialem Rauschen jenseits der Bildschirme und hat folglich kaum mehr die Möglichkeit, sich in kulturelle Repräsenations-mechanismen einzuklinken, die fast vollständig von Mediensystemen absorbiert worden sind. Man denke nur an das Format der Daily Talks mit ihren Themen wie: 'Hilfe! Mein Freund küsst mich nicht mehr stündlich!'. Wir vergewissern uns über derartige Shows, dass wir mit unseren banalen Sorgen und peinlichen Problemen doch noch irgendwie angeschlossen bleiben, eingeschlossen bleiben, nicht zum Anderen der Gesellschaft verkommen.

Es scheint somit nur mehr Chancen auf Wirklichkeitserfahrung zu besitzen, was zu einem Teil der umfassenden medialen "Sight Machine" (Critical Art Ensemble) geworden ist. Im Zuge dieser Mediatisierung von Wirklichkeitskonstruktionen lässt sich dann auch Authentizität nur mehr in Kategorien von medialer Repräsentation denken. Angesichts dieser Umstände darf es nicht überraschen, wenn gerade Reality TV, Reality Soaps, Daily Talks und Daily Soaps als große Subjektivierungs- und Authentizitätsmaschine bezeichnet werden müssen. Denn woher sonst hätten wir all die Vorstellungen darüber, entlang welcher Parameter wir uns entwerfen, stilisieren, inszenieren oder entfremden sollten? (Man sieht schon, wir haben den Dokumentarfilm ein Stück weit zurückgelassen.)

Weshalb aber dieser Drang nach Sichtbarmachung, danach, eine Gleichwertigkeit herzustellen zwischen dem, was man sieht, und dem, was man ist? Weshalb das Begehren nach Beobachtbarkeit? Warum soll alles mögliche, Banales wie Privates, überhaupt sichtbar werden? Nicht nur, dass Fernsehanstalten um die Produktion von Wirklichkeit wetteifern, tausende SeherInnen schicken ihre Urlaubsvideos ein, bewerben sich bei Reality Talks und wetteifern darum, in Flirtshows das Objekt der Begierde zu werden - für die zweite "Staffel" von "Big Brother" soll es an die sechzigtausend Bewerbungen gegeben haben. Das Artifizielle der Medienmaschinerie hat es jetzt plötzlich auf das Gewöhnliche und nicht mehr auf das Seltene und Sensationelle abgesehen. Geht es für die ZuseherInnen darum, die Medien zu einem Vehikel nicht nur der Selbst-darstellung, sondern, radikaler noch, zum Vehikel der Selbstproduktion zu machen? Handelt es sich dabei nicht um ein grundlegendes Missverständnis? Oder zeugt diese Strategie bereits von einem elaborierten Medienkonsum, der sich in eine komplizenhafte Form der Medienpraktik zu verwandeln beginnt?

Erinnern wir uns daran, dass es nicht darum geht, das Reale, Wirklichkeit, darzustellen, sondern so etwas wie Wirklichkeit zu bedeuten. Mit anderen Worten: Wirklichkeit ist eine Form ästhetischer Differenz geworden. Und diese Differenz wird systemintern produziert (im Film, im Fernsehen): Wirklichkeit hat sich als Medienprodukt etabliert und wird auch als solches konsumiert, interpretiert und archiviert.
Wenn man diesen radikalen Einschnitt in Repräsentationsverhältnisse unterstellt (die Veränderung der Beobachterverhältnisse in der Öffentlichkeit), und sich gleichzeitig vergegenwärtigt, dass Massenmedien in erster Linie Geldmaschinen sind, noch bevor sie Kontroll- und Disziplinierungsmaschinen sind, dann müssen wir nicht nur von den technischen, ästhetischen oder semantischen Modalitäten sprechen, sondern sollten einen Blick auf andere Mechanismen lenken: auf Konsumkultur, an die die Medienmaschine eng gekoppelt ist. Denn schliesslich haben Fernsehsender etwas zu verkaufen: Reich-weiten, Zielpublikum - das heisst: grösstmögliche Sichtbarkeit für zu werbende Produkte. Beobachtung und Sichtbarkeit sind also nicht nur dem Voyeurismus zugeordnet, bzw. gerade dem Voyeurismus, wie er die Grundlage für Konsumverhältnisse bildet.

Stellen wir uns Konsumverhältnisse auch als Formen kultureller Repräsentation vor. Neben Waren beherrschen schon lange Dienstleistungen verschiedeste ökonomische Sektoren. Die gesamte Unterhaltungsindustrie lässt sich in dieser Form beschreiben, wenn die Ware durch Verhaltensmuster der KonsumentInnen überhaupt erst manifest wird. Unterhaltung als Produkt zu definieren heisst, Subjekte kulturell zu beschriften, zu codieren, zu programmieren, damit sie in der Lage sind, bestimmte Repräsentations- und Handlungszusammenhänge als Unterhaltung identifizieren und entsprechend 'genießen' zu können. Aber auch Fitnesskultur und Mode gehören zu diesem konsumistischen "Spiel", das ein entsprechendes öffentliches Subjekt produziert; all' die Lifestyle-Elemente bilden die Elemente einer Oberfläche, eines Bildschirrms?, auf dem wir uns wiedererkennen sollen. Dieses Bild ist es, dass es uns erlaubt zu zirkulieren, zu kommunizieren, die erwünschten Anschlusskommunikationen herzustellen, sprich: permanent als KonsumentIn adressierbar zu bleiben. - Insofern ist es kein drastischer Schritt mehr zur Definition dieses Subjekts/dieser Repräsentation selbst als Ware, als image. Konsumverhältnisse konvertieren das Subjekt in ökonomisch und konsumistisch definierte "Produkte".

Wenn also "Reality TV" nicht primär bestimmte Inhalte produziert, sondern ein ökonomisch definiertes Medienkosnstrukt ist, dann handelt es sozusagen mit Authentizität als neuer, medialer Warenform. Die Ideologie dieses Sendformats wäre dann eine rein ökonomische, die darauf abzielt, alles und jedes in eine Warenform zu verwandeln, verkaufbar und vor allem konsumierbar zu machen. Eine 'future'-Generation, die die Programmdirektorin des ORF in Verzückung geraten lässt: kauf dir deinen Teil vom wirklichen Leben, konsumiere doch mal richtig authentische Fernsehbilder, und es wird dir besser gehen!

Wenn es also um Wirklichkeit geht, dann um ihre Verkehrung in eine Warenform. Und Reality TV ist ein Trick, uns alle über eine Dramatisierung des Alltags in diese Bilder einzuschleusen, uns zu einem unauflöslichen Teil dieser Bildwelten und ihrer Konsumerzählungen werden zu lassen. Nicht wenige AutorInnen stellten in verschiedenen Besprechungen des Phänomens die Frage: ist unser aller Leben zu einer Soap Opera oder einer Reality Show verkommen? Noch nicht, würde ich sagen, aber es wird daran gearbeitet.

Wie im Lotto existieren in der Wirklichkeit, wie sie Fernsehformate wie TXO entwerfen, keine sozialen Schranken, die verhindern würden, reich, oder zumindest vom Fernsehen erfasst oder vom Konsum ausgeschlossen zu werden. Und wenn Authen-tizität, die "authentische Darstellung" von Individuen in verschiedenen variablen, wiederum konstruierten sozialen Zusammen-hängen, erst einmal eine Ware geworden ist, dann werden die Eigenschaften dieser Individuen, die ihre Authentizität performen, quasi zu Markeninformationen, zu Brandingelementen eines Labels: Seht her, ich habe das Zeug zum Star! Und die Zielgruppe der 14- bis 26jährigen möchte dann so werden wie Max oder wie Anna, was ungefähr soviel heisst, wie diesen oder jenen Lidschatten auftragen, diese oder jene Hose tragen oder in diese oder jene Clubs gehen. Man könnte von temporär attributiver Wirklichkeit sprechen, was immer das bedueten mag.

Egal, ob in Containerwohnungen oder einem Taxi: all die Personen agieren vor und für die Kamera, in ständigem Bewußtsein davon, re-repräsentiert zu werden und also eigentlich Bilder zu produzieren - und das verbindet sie mit den 'Nachrichten aus dem Tiefparterre'. Alles was an vermeintlich Privatem in Öffentliches konvertiert wird, setzt sich schon im Hinblick auf ein Sendeformat ins Bild, setzt immer schon mediale Beobachterverhältnisse voraus (schließlich kann ich nur konsumieren, was ich sehen kann). Wie ein technischer Apparat produzieren diese Personen Bilder, die wieder nur andere Bilder repräsentieren, die anhand von Medienbildern gewonnen und entwickelt worden sind. Waren wie Medienangebote beinhalten immer schon bestimmte Subjektentwürfe bzw. deren Repräsentatiosformen in kulturellen Diskursen. Ein geradezu makelloser, sytemimanenter Zirkel zwischen Repräsentations-verhält-nissen nimmt seinen Lauf. Auch in diesem Sinn herrschen komplizenhafte Verhältnisse.

Und als Zuseher beginnen wir, das Genießen anderer zu konsumieren, welches sich als Genießen beschreiben lässt, ständig im Bild zu sein und sich die Frage nicht mehr stellen zu müssen, ob sie an der Instanz des Sichtbaren teilhaben. Zizek würde vielleicht meinen, Max und Werner, oder wie sie heissen, hätten es geschafft, zum Symptom zu werden und keines mehr zu haben. Doch die wichtigere Frage, die sich die ProtagonistInnen von Reality Shows im Grunde stellen sollten, lautet: Wie muss ich erscheinen, um als Ware zu funktionieren, um konsumierbar zu werden und als vernetzbares Image zurkulieren zu können? Die Typologie der KanditatInnen in diversen Serien, Shows und Talks funktioniert dann auch analog zum Buttersortiment im Kühlregal: etas mehr Salz, etwas weniger Fett, verschiedene Verpackungen, für jeden etwas! Reality TY als Dauerwerbesendung, in der jeder mal seine Sendezeit hat, um sich anzupreisen - denn schliesslich entscheidet oftmals das Publikum darüber, wer gewinnt, und wer verliert. Intimität als Ware, das Ich als Marktchance. Reality TV als massenmedial Inszenierte Einordnung des lebendigen Körpers in die Kategorie der Luxusobjekte.

"Was passiert aber, wenn wir "eines Tages aufwachen und praktisch jede Beziehung außerhalb der Familie eine bezahlte Erfahrung ist. (...) Im Zeitalter des Access beuten Unternehmen kulturelle Ressourcen aus und wandeln sie in kostenpflichtige Erlebniswelten um. Der Schaden könnte sein, dass die Disneys und Time Warners dieser Welt alle Kulturen dieser Erde in eine einzige kommerzielle Arena verwandeln.!" - beklagt Jeremy Riffkin.

Wenn also das Massenmedium Fernsehen, wie alle Massenmedien und insbesondere technische Massenmedien, Gesellschaft synchronisieren, auf Dauer stellen und sozu-sagen die Welt zusammenhalten, dann ist diese Welt grundsätzlich um Konsum-ver-hältnisse zentriert, die auch im Zentrum von Medienverhältnissen stehen. Insofern lässt sich also zu recht behaupten: "Die Medien sind der Stoff, aus dem die Konflikte sind."

"32 Kameras. 48 Mikrofone. 24 Stunden. 77 Tage. Live." Diese technische Konstellation zeugt nicht nur von Beobachtbarkeit, von Voyeurismus, vom Unterwerfen des Individuums unter Medienbedingungen, sondern zeugt darüberhinaus von einer radikalisierten medialen Produktionsmaschine, die diese Beobachtungen verwertet, und zwar sozio-kulturell wie ökonomisch. Die Bilder der 32 Kameras sind nicht einfach Bilder von etwas, über das man streiten könnte, inwiefern es noch mit Wirklichkeit zu tun hat oder nicht (und das wir uns entschlossen haben, als Wirklichkeit zurückzuweisen). Es sind Bilder, die die Umwandlung kultureller Repräsentations-verhältnisse insgesamt demonstrieren. Es sind Bilder der großen Konsummaschine, die noch die tristesten und staubigsten Kleinode des Alltags, den kleinsten Abfall von Normalität und die geringsten Spuren Intimität in funkelnde, wertvolle und begehrenswerte Edelsteine zu verwandeln vermag.

Oder warum sonst schalten sich täglich hunderttausende ZuseherInnen zu?

Und zum Schluss könnte mir noch jemand erklären, was DAS mit Dokumentarfilmen zu tun hat?



© Reinhard Braun - Vortrag gehalten in der Medienwerkstatt, 24. November 2000, im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Five Dates or more"


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