|
Metamorphosen der Körper.
Vom Antlitz zur Zwischenablage
"Bilder sind Subjektivierungsmaschinen".
Mit diesem -- lakonisch anmutenden -- Statement beginnt Andreas Broeckmann einen Text mit dem Thema "Komposit-Subjekte", in dem er die gegenwärtig virulente Frage anspricht, als was wir uns und die Welt erkennen werden angesichts der Erweiterung der Wahrnehmungsräume durch digitale Bildtechnologien, und diese dahingehend entschärft, als er die Gefahr als für klein erachtet, dass wir alle zu niedrig aufgelösten Subjekten in rein virtuellen Umgebungen werden. "Das jüngst gemachte kalifornische Versprechen [gemeint ist die "Unabhängigkeitserklärung des Internet" durch John Perry Barlow vom Februar 1996] einer universellen und metakörperlichen Gemeinschaft des Geistes, die sich in den immateriellen Gebieten des Cyberspaces trifft, die Befreiung des menschlichen Bewußtseins von den Beschränkungen des Fleisches und restriktiver sozialer Ordnungen erscheint als nicht viel mehr denn der Ausdruck eines utopischen Begehrens, das wenig Beziehung und keine Konsequenzen für das Entfalten der diagrammatischen Kräfte der Subjektivierung hat." Wenn es auch anzuzweifeln ist, dass die Medientechniken virtueller Spiegelungen des Subjekts in ebenso virtuellen Environments die "Kräfte der Subjektivierung" unbeeinflusst lassen, beschränken wir uns zunächst auf die Feststellung, dass dabei eine Perspektive auf das fotografische Bild entworfen wird, die diese nicht als körperliches, materielles Indiz von Referenzialität in den Blick nimmt, sondern als eine Oberfläche, die als spezifische Grenze zwischen Welt und Wahrnehung dieser Welt verstanden wird, als ein -- im Foucaultschen Sinne -- "heterotopischer Ort, an dem das Subjekt in seiner Instabilität und Transversalität konstituiert wird", d. h. als eine spezifische Schnittstelle zwischen Subjekt und Welt. Die Begriffe der Heterotopie und mehr noch jener der Spiegelung führen uns direkt zu Lacanscher Begrifflichkeit, und sie machen deutlich, dass es -- jenseits der Frage nach realer oder fiktionaler, sprich, virtueller, Realität -- im Rahmen jeder Konstruktion von Subjektivität um Blickverhältnisse geht, um das Eingebunden-Sein des Subjekts in Blickverhältnisse. Als Subjekte sind wir von "Blickregimes" definiert, von Repräsentationen von Wahrnehmungen -- d. h. von Ins-Bild-Gesetzten Blicken (denken wir nur an die erste Halluzination der Vollständigkeit des Ichs, wie es Lacan im Spiegelstadium beschreibt; dazu schreibt etwa Margaret Morse: "Der Körper ist ein Projekt, in dem überlappende Systeme zusammenarbeiten, für die von einem äusseren Blickpunkt aus eine imaginäre Einheit konstruiert werden muss, was Lacan das 'Spiegelstadium' nannte. Dieses vereinheitlichende Bild ist ein soziales und historisches Konstrukt, das in bezug auf Medium und Inhalt variiert, von dem Eigenbild, das man in den Augen des anderen liest, zum physischen Körper im Spiegel, dem gezeichneten oder gemalten Körper, dem Körper als Massenprodukt in Druck- oder fotografischen Medien, und nun dem 'Live'-Körper in den elektronischen Medien wie Radio, Fernsehen, Video und der computerunterstützten Bildwelt virtueller Umgebungen." Jene Bildformationen, in die das Subjekt also stets eingebunden ist, konstruieren also von eine äußeren Blickpunkt aus "imaginäre Einheiten", durch die so etwas wie Subjektivität überhaupt erst zur Erscheinung gebracht werden kann.
"Dass Subjektivität und Welt sich widerspiegeln, und darüber erst begründen, ist also kein Merkmal unserer Epoche. Epochenspezifisch sind die Bedingungen, zu denen das geschieht: Die Darstellungslogik, die unseren Blick auf die Objekte bestimmt und die Gestalt, die wir selbst annehmen, sowie der Wert, den ein inzwischen komplexer organisiertes visuelles Feld diesen Darstellungen beimisst. (...) Es klingt vielleicht überraschend, aber es ist [die Fotografie], die den grössten Einfluss darauf hat, wie wir das Gespiegeltwerden (er)leben." (Kaja Silverman)
Im folgenden geht es also nicht um die Geschichte des Bildes als Erkenntnisinstrument, als Gedächtnisapparat, oder als ästhetischer Bild-Diskurs, wohl aber um seine Rolle im Rahmen kultureller Kommunikation und Repräsentation -- worauf ich hier abziele ist die Rolle der Fotografie als eine konstitutive Oberfläche der Visualisierung von Welt, als Bildmaschine, als visuelles Mediensystem, das Subjekte erst erzeugt, das Subjekten ihren Subjektstatus zuweist, diesen vorschreibt, weil es ein prinzipiell mediatisiertes Verhältnis von Subjekt und Welt markiert, sich als imaginäre Linse zwischen die Erscheinungsformen des Wirklichen und unseren Blick schiebt und so alles Gesehene nach fotografischen Kriterien organisiert, wodurch Vilém Flusser davon sprechen konnte, dass wir "in Funktion der Bilder" erleben, und Roland Barthes davon, dass wir nur "als Bild erscheinen oder zum Vorschein gebracht werden", oder, wie es Herta Wolf und Michael Wetzel in ihrem Vorwort zu "Entzug der Bilder" schreiben: "Denn wirklich ist immer, was sich durch ein Repräsentationssystem generieren läßt." Und sie stellen fest, dass es keine Wirklichkeit vor den Bildern gibt, dass aber andererseits "die Präsenz der Bilder nur die Spur einer aufgeschobenen Absenz ist, die vom Niederschlag einer Operation der Supplementierung, einer Ersetzung oder Aneignung zeugt." Es geht nicht nur um Visualisierung, um das Herstellen von Bildern als Prozess einer Mediatisierung, sondern um die Rolle des Bildes in diesem Prozess im Hinblick darauf, wie wir uns selbst in ein Verhältnis zu dieser Welt setzen bzw. durch Bildmaschinen in ein Verhältnis zu dieser Welt gesetzt werden.
Es ist also -- unter anderen -- das fotografische Bild, das uns die Möglichkeit verschafft, zu einem Bild des Selbst zu gelangen, auch wenn dieses Bild -- wie wir als Subjekte, die es addressiert -- von "Instabilität und Transversalität" gekennzeichnet ist, wie Broeckmann anmerkt -- die "Spur einer aufgeschobenen Präsenz", eine "imaginäre Einheit". Das fotografische Bild, das, um mit Christian Metz zu sprechen, "einen Schnitt in den Referenten" macht, so "als würde unsere körperliche Gestalt mit einem Schlag objektiviert", d. h. in eine Darstellung verwandelt, ist also nicht nur Still-Stellung von Zeit, sondern Markierung einer Konfiguration des Wirklichen in der Zeit, Markierung von Ereignissen, Dingen und eben Subjekten, die erst unter und durch diese Still-Stellung zu Ereignissen, Dingen und Subjekten werden, weil das Wirkliche nicht jenseits dieser signifikanten (und anderer signifikanten) Operationen existiert, sondern nur in einem Feld des Visuellen. Allerdings beschreibt die Formulierung "Feld des Visuellen" nicht einfach Sichtbarkeit oder Wahrnehmung, sondern vor allem jene Prozesse der Bildproduktion, welche Wahrnehmung überhaupt erst einer Reflexion zuführen, indem sie sie fixieren (und das heisst: produzieren). Wir sind also nur Subjekte, insofern wir an dieser "Instanz des Sichtbaren" (Christian Metz) teilhaben, oder, um wieder mit Lacan zu sprechen, indem wir Teil des "Bildschirms" werden, der durch das Blickregime konfiguriert wird. Ohne -- an dieser Stelle unnötige -- Theoretisierung lässt sich festhalten, dass der "Bildschirm" sozusagen die Manifestation des Blickregimes darstellt, eine bestimmte Organisation von Sichtbarkeiten, eine Konstellation von Objekten, Gesten und Blicken im Hinblick darauf, welche Bedeutung sie als Bildelemente konstruieren. Der "Bildschirm" beschreibt quasi das "kulturelles Bildrepertoire", wie es Kaja Silverman bezeichnet, ein Bildrepertoire, das quasi alle verfügbaren Figuren der Herstellung von Bedeutung umfasst. Das "Blickregime" und der "Bildschirm" formulieren also den grundlegenden Umstand, dass Darstellungen, Bildformen, den Körper und das Subjekt erfassen, einfassen, einrahmen, dieses sich nur über jene beschreiben und definieren kann, kurz gesagt: dass Darstellung immer bedeutet, dass die Körper einer visuellen -- im spezifischen Fall: fotografischen -- Prägung unterliegen. "Wir werden uns unserer eigenen Positionierung im Feld des Sichtbaren genau dann bewusst, wenn wir uns selbst in der Gestalt einer fantasmatischen Fotografie wahrnehmen." (Kaja Silverman) Wir haben nur dann die Gewissheit, gesehen zu werden, wenn wir als Bilder zirkulieren. Fotografien sind also in einem ganz elementaren Sinn Subjektivierungsmaschinen. Subjektivierung darf hier nicht als Form der Individualisierung missverstanden werden, sondern muss im Sinne einer Typologisierung von Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung (um nicht zu sagen Selbstbeobachtung) gesehen werden, die eine soziale Zuordnung schafft, eine soziale Kartografie erstellt, wenn man so will. Durch diese Kartografie als Form sozialer/kultureller Codierung erhält ein Individuum erst seinen Subjektstatus. In diesem Prozess kutureller Beschriftung spielen Bilder/Bildformationen ein zentrale Rolle, indem sie dem Subjekt in Form einer Repräsentation einen sozialen Ort zuweisen. (Wem das zu abstrakt erscheinen mag, der denke einfach an Mechanismen von Mode, Lifestyle, Körperkult etc. -- wir erfahren nur über Bilder von diesen denotativen Vorschreibungen der Kultur).
Es wird also im Folgenden um verschiedene Modelle der visuellen Beschreibung und Markierung, der Konstruktion von Subjekten gehen, Konstruktionen, die nicht in erster Linie ästhetisch interessant sind oder im Hinblick auf ihre Originalität, sondern im Hinblick darauf, inwiefern sich auf und in ihnen ihnen Verschiebungen in den Vorstellungen über Subjekte manifestieren, inwiefern sie solche Verschiebungen formulieren, anzeigen, markieren, eine Verschiebung im "Blickregime" und dem "Bildschirm" erkennen lassen. Die im Untertitel -- vom Antlitz zur Zwischenablage -- anklingende Richtung dieser Verschiebung lässt sich vorwegnehmen: sie ist technologischer Natur.
Wenn es aber in diesem Zusammenhang um die technischen Modi der Bilderzeugung geht, dann nur in dem Sinn, dass sie Neuformulierungen von Kulturtechniken wiederspiegeln. In bezug auf die Frühzeit der Fotografie schreibt dazu Gunnar Schmidt: "Das Sehen wird neu erfahren und die Grenzen dieses Sinnes werden offenkundig; Fragen der künstlerischen Imagination und der Materialien werden diskutiert; und schliesslich wird eine Philosophie des Bildes in Aussicht gestellt, die die Beziehung von Referentialität, Wahrnehmung und Repräsentation verhandeln wird." Wie unter anderen Ulrich Reck gezeigt hat, lässt sich nicht sinnvoll aus der schieren Materialität (oder eben Immaterialität) der Bildträger wie der Bildproduktion in einem quasi induktiven Verfahren die Logik dieser Bildproduktion erschliessen oder eine solche quasi ursächlich folgern. Diese medienimmanente Perspektive verkennt nur allzu oft die komplexen kontextuellen, konnotativen Verstrickungen und Koppelungen von Medium, Material und Herstellungsprozess mit semantischen Figuren allgemein-kultureller Zeichensysteme, d. h. mit dem Bildschirm als Summe der verfügbarer Repräsentationfiguren: ob eine bestimmte Repräsentation indexikalisch oder emergent, d. h. allein auf der Grundlage medientechnischer Operationalität entstanden ist, ist nicht technisch entscheidbar, und auch nur mässig relevant, wenn dadurch das kulturelle Zeichensystem intakt bleibt, d. h. keine Bedeutungsverschiebung stattfindet, sondern nur bekannte Formeln reproduziert werden (insofern sich ein neues Medium lediglich mimetisch, verhielte, sowohl gegenüber Realität wie auch gegenüber anderen medientechnischen Verfahrensweisen).
Was hier interessiert, ist ein vor allem kulturell definierter Medienbegriff, der sich auf Medien als spezifische Organisationsform von kulturellen Kontingenzen bezieht, sein Augenmerk auf die Überlagerungen von Medientechniken und -semantiken legt, Semantiken, die niemals nur medienimmanent generiert oder entchieden werden, sondern in verschlungenen Prozessen kultureller Kommunikation. Medien erscheinen dann weniger als technische Gadgets oder Werkzeuge, sondern als Fortschreibung einer sozialen Maschinerie, die der apparativen immer vorausgeht. Medien stellen in je spezifischer Weise kulturelle Tatsachen her und verknüpfen und verketten diese mit weiteren kulturellen Formationen und Artefakten.
"Nicht als Vehikel eines Inhalts, sondern durch die Form und Operation selbst induzieren Medien ein gesellschaftliches Verhältnis" (Jean Baudrillard) Als "historisches Apriori der Sinneswahrnehmung", wie sie Norbert Bolz bezeichnet, überformen sie jede Wahrnehmung von Welt als Realem. Und "das Vordringen der Technologie in den Körper und die Vergesellschaftlichung der simulierten Realitäten" sind mehr als nur "Zeichen technologischen Fortschritts, sie stellen auch eine radikale Transformation des Wissens, der Biologie und der kulturellen Ordnung dar (...)" (Timothy Druckrey).
Es geht also um die auch durch neue Bildtechnologien möglich gewordenen und durchaus im Realisieren begriffene Neuformierung des zuvor thematisierten "Bildschirms", um eine Neuordnung des Blickregimes, d. h. um ein neuartige Einfassungen des Subjekts als Erscheinungsform der Bilder, um eine neuratige visuelle Prägung der Köeper wie der Subjekte, um eine Neupositionierung des Subjekts im Feld des Sichtbaren und Sozialen.
Es tritt im Rahmen technologischer Bild-Prozesse zum Blick des Subjekts, zu jeder apparativen oder technoiden Aufrüstung, Spiegelung oder Reproduktion dieses Subjekt-Blicks, ein Blick hinzu, der nichts mehr zu tun hat mit diesem Subjekt, sondern nurmehr die Perspektive der Technologie selbst formuliert bzw. in Szene setzt. Tritt schon im fotografischen Akt "die Wahrnehmung gleichsam hinter die Prothese der Wahrnehmung zurück" (Gunnar Schmidt), dann verschwindet später selbst noch diese prothetische Beziehung, von der noch die rede sein wird). Und wenn Kittler davon gesprochen hat, dass Wahrnehmung auf Medienverhältnisse umgestellt wurde, dann meinte er gerade diese Entfernung des Subjekts aus jeder Wahrnehmung. Dazu später mehr.
Es läßt sich mithin nicht leugnen, daß die aktuell expandierende digitalen bzw. technisch wie ästhetisch hybriden Mediensysteme -- in welcher Form auch immer -- "uns" - als soziale Körper, als kulturelle Produkte -- in anderer Weise mit "Realität" (wie immer dieser Begriff gefasst sein mag) und dem Sozialen verschalten, als dies bisherige Medientechniken (wie etwa Fotografie) taten, daß ihre technologischen Organisationsprinzipien (formal wie strukturell) auf gesellschaftliche bzw. gesamtkulturelle Ebenen aus- bzw. durchgreifen, daß sie, kurz gesagt, in die kulturelle Ordnung, in die "Gefüge" der Kultur (um hier einen Terminus von Deleuze/Guattari zu entlehnen) intervenieren. "Während die Massenmedien standardisierte, einheitliche Körperbilder produzierten, die über ein Jahrhundert lang kommerziell ausgebeutet wurden, drohen die neuen Medientechnologien den physischen Körper bis unter die Haut zu kolonisieren." (Margaret Morse) Als Resultat steht heute ein hybrides Subjekt im Raum, wie es etwa Donna Haraway in der Figur "der Cyborg" antizipiert bzw. entworfen hat: "Die Cyborg ist eine Art zerlegtes und neu zusammengesetztes, postmodernes kollektives und individuelles Selbst." Denn wenn es immer auch Maschinen sind (Bildmaschinen oder Kommunikationsmaschinen), über die wir unser Selbst definieren, bleibt sozusagen die Frage nach der Grenzziehung zwischen Subjekt und Maschine ständig virulent.
Doch wenden wir uns nun kurz FRANCIS GALTON zu, der seit 1877 an seiner Kompositfotografie arbeitete, Mischportraits, die durch die Mehrfachbelichtung einer fotografischen Platte mit den Aufnahmen mehrerer Einzelpersonen erzeugt wurden. Das Resultat war ein Bild, das, so Galton, "keinen spezifischen Mensch darstellt, sondern eine imaginäre Figur portraitiert, die die durchschnittlichen Züge einer bestimmten Gruppe von Personen besitzt. Diese idealen Gesichter vermitteln einen überraschend realistischen Eindruck. Niemand, der sich eines von ihnen zum ersten mal anschaut, würde bezweifeln, dass es sich um das Antlitz einer wirklichen Person handelt. Es ist jedoch, wie gesagt, nichts dergleichen; es ist das Portrait eines Typs und nicht eines Individuums." (zit. n. Andreas Broeckmann)
Fotografie als Subjektivierungsmaschine? Wir scheinen uns in entgegengesetzter Richtung zu bewegen. Was jedoch, wenn es sich hier um ein ganz bestimmtes Subjekt handelte?
In ihrem Essay "Frauenkörper und medialer Leib" beschreibt Christina von Braun den Begriff des "Kollektivleibs" als Selbstbild, das ein Kollektiv von der eigenen Beschaffenheit entwirft. Sie bezeichnet es als "Artefakt", weil das Kollektiv über keine realen Körpergrenzen verfügt, über keine physisch definierbaren Merkmale. "Der Kollektivleib hat keine Haut. Eben deshalb spielt aber in der Definition des Kollektivleibs die Analogie zum Individualkörper eine wichtige Rolle." Im 18. und 19. Jahrhundert münden die christlichen Vorstellungen der Glaubensgemeinschaft, des "Corpus Christi mysticum" in säkularisierte Konzepte des Kollektivleibs, die durch die Begriffe "Volkskörper", "nationaler Organismus" und später "Rassengemeinschaft" gekennzeichnet waren.
Diesen explizit am Körper orientierten Vorstellungen über kollektive Gemeinschaften tritt gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein anderes Konzept es Kollektivs gegenüber, das von von Braun als "medialer Kollektivleib" bezeichnet wird. "Dieser Kollektivleib konstituiert sich durch das dichte Netz von Kommunikationsfäden, die sich durch eine Gemeinschaft ziehen und eine Art von geistigem Konsens herstellen." Diese Kommunikationsfäden sind auch Bildfäden: die einsetzende Massenproduktion von fotografischen Bildern hatte eine eminente Ausweitung des Bildkonsums zur Folge -- immer mehr Bilder von immer anderen Schauplätzen der Welt und der unmittelbaren Umgebung beginnen, nicht nur eine Ausweitung, sondern geradezu eine Form der Transparenz der Realität zu erzeugen. Und eine solche Fülle an visuellen fakten nötigt zur Klassifikation, zur Suche nach Gemeinsamkeiten, Regeln, Ordnungssystemen. Wenn der kollektive Leib zwar ein Artefakt ist, wie übrigens auch die Fotografie, so handelt es sich dabei doch um einen abstrakten Körper, der nicht als "Schnitt in den Referenten" sichtbar gemacht werden kann, der also quasi gar nicht repräsentiert werden kann. Galtons Kompositfotografie stellt gerade solche typologischen, an quantitativen Verfahren orientierte Kollektivportraits dar -- als Repräsentation eines Konsenses über die Erscheinungsformen der Subjekte, die als Antlitze aufgezeichnet werden. Galtons Arbeit ist ein Beitrag zum "medialen Kollektivleib".
Die Kompositfotografie Galtons bezeichnet damit keinesfalls die "Gegewart eines Anderen als solchen", durch dessen Blick wir uns konstituieren -- die Kamera nimmt diesen Blick ein. Als apparative und additive imaginäre Einheit entbehrt sie im fertigen Bild jeder wirklichen Referenz und kann daher von den Betrachtern in die Subjektivierungsmaschine Fotografie als Repräsentation nicht überführt werden. Stehen im Hintergrund der Komposit-Phantome auch die Antlitze konkreter Subjekte, so löscht Galton diese in seinen mediengenerierten Überlagerungen aus, er ersetzt quasi das Subjekt durch das Medium, er supplementiert einen Blick durch eine medientechnisch generierte Überlagerung.
Die Kompositbilder Galtons lassen sich als Inkunabeln einer beginnenden Auslöschung des Antlitzes (oder, wie wir es eingangs genannt haben: einer Präsenz) durch ein Mediensupplement -- die Spur einer aufgeschobenen Präsenz -- lesen. An den Fotografien Galtons lässt sich eine Verschiebung im kulturellen "Bildschirm" ablesen -- dennoch weist dieser "unmögliche Blick" noch keineswegs direkt und unmittelbar voraus auf die emergent-referenzlosen Bilder digitaler Technologien -- die Geschichte ist -- leider -- komplizierter. (Womit wir die Hälfte der geschichte erreicht haben)
Im Hintergrund der kompositorischen Artefakte Galtons standen also sehr wohl die Antlitze von Subjekten -- die Bilder beruhen auf der Methode der Überlagerung von referentiellen Bildebenen, die sich teilweise auslöschen oder verstärken. Nicht Ergebnis eines Blickes sind sie dennoch Resultat eines Sehens, eines, wenn man so will, noch semi-wissenschaftliches Sehens, das auch schon im industrialisierten 19. Jahrhundert nur mehr als apparatives in Erscheinung treten konnte. Galton -- und andere mit ihm -- bewegt sich somit genau an der Grenze zwischen Blick und apparativer Supplementierung dieses Blicks. Dazu Gunnar Schmidt: "Das Portrait ist Trug einer Realität, denn es zeugt weder von einem Moment aus der unendlichkeit der Ereignisse noch von einem Antlitz; Zeit und Ding haben kein Sein. Kurz gesagt: Wir sehen etwas, das nicht existiert. Wenn vor Galton die Fotografie dazu diente, etwas sichtbar zu machen, das für das Auge unsichtbar aber gleichwohl anwesend war, so wird nun eine Sichtbarkeit erstellt, die ohne Anwesenheit ist. Mit Recht liesse sich behaupten, dass das fotografische Kompositverfahren Unsichtbarkeit beherrschen will."
Wir können also eine Koppelung von Bild und Subjekt, eine Koppelung zwischen der Befindlichkeit des Subjekts und der Bilder dieses Subjekts konstatieren, eine Koppelung, die seinerseits von Instabilität gekennzeichnet ist, geradeso wie das Subjekt auf das sie sich bezieht (denn sonst wäre dieses kein historisches). Christina von Braun etwa setzt in dem erwähnten Essay in ihrer historischen Analyse gegen Ende des 19. Jahrhunderts auftretende psychische Störungen (vor allem von Frauen) mit den gleichzeitig sich durchsetzenden Innovationen technischer Medien parallel: etwa die Multiple Persönlichkeitsstörung mit dem Film, aber auch die Hysterikerinnen mit der Fotografie (man denke nur an die Experimente Duchennes, Geschtsausdrücke von Gemütszuständen -- bis hin zum Wahnsinn -- durch die elektrische Reizung von Gesichtsnerven zu erzeugen und diese dann zu fotografieren, um so, wie es Charles Lebrun im 17. Jahrhundert mit anderen Mitteln versucht hat, eine systematische Tafel aller möglichen Physiognomien zu erstellen, oder, denken wir an die bekanntere "Iconographie photographique de la Salpetrière", die die Arbeit einer ganzen fotografischen Abteilung des Pariser Krankenhauses zusammenfasst, an der Charcot die Diagnose der Hysterikerin entwickelt hat und in der Galton als wichtiges Referenzexperiment erwähnt wird: wie immer individuell/subjektiv oder scheinbar abweichend unser Zustand sein mag, er äussert sich in Bildern, in Reihen von Bildern, in bestimmten Koppelungen von Selbstwahrnehmung und Bildgedächtnis). "Der Körper selbst, befinde er sich nun vor oder hinter dem fotografischen Apparat, gerät in eine prothetische Beziehung mit diesem Apparat. Etwas wird dem Körper physikalisch hinzugefügt, eine technologische Supplementarität, die einen völlig neuen Körper hervorbringt, der von einer technologischen Hybridität zerrissen ist." (Douglas Fogle) Im Zentrum dieser Parallelisierung von Fotografie -- Hysteriker/in und Kino -- Multiple Persönlichkeitsstörung stehen jedenfalls Blickverhältnisse, Repräsentationsverhältnisse, Verhältnisse zwischen Subjekt und Bild-Apparat, die erst zum Entwurf und zur Vermittlung (d. h. einer kulturellen Repräsentation) von Subjektivität führen. Galton hat diesen Zusammenhang erkannt und dem Individuum sozusagen sein kollektives Anderes -- maschinell produziert -- gegenübergestellt.
Bilder sind also Subjektivierungsmaschinen -- indem sie dem Subjekt erlauben, zu erscheinen, ein Bild von sich zu entwerfen, sich in Identität oder Differenz mit diesem Bild zu konstituieren und sich immer mehr in eine symbiotische Beziehung mit den Apparaten ihrer Produktion zu begeben. (Denken wir neuerlich an das Lacansche "Spiegelstadium", um die Bedeutung von Blick, Erscheinung und Repräsentation für die Subjektkonstitution zu untermauern.) Und um ein letztes Mal die Somatik der Hyteriker/innen als fotografische Praxis, als Beispiel für die Koppelung von Selbstwahrnehmung und apparativem Bild heranzuziehen ein weiteres Zizat von Douglas Fogle: "Es ist, als könnten wir im Reich der Technologie nicht mehr sagen, wo der Apparat aufhört und unser Körper beginnt. Der Körper selbst wird fotografisch. Er beginnt, auf seiner Oberfläche Zeichen auszusenden, die denen sehr ähnlich sind, die dem fotografischen [oder dem filmischen] Auge eingeschrieben werden." Was sich dabei ankündigt, ist ein Zusammenfall von Bild und Subjekt. "Der hybride Körper ist kein einheitliches Körperbild, das sich auf dem Spiegel gründet; das hybride Bild ist ein 'Replikant', der räumlich und zeitlich vom physischen Körper getrennt ist, geeignet für Montagen, Vervielfältigung, Verlagerung und Veränderung." (Margaret Morse) Es lässt sich erkennen, dass eine Analyse der Arbeit Galtons sozusagen vorausblicken lässt auf aktuelle Fragestsllungen im Rahmen digitaler Bildtechnologien. Es werden aber genauso die Unterschiede und Brüche zu bedenken sein.
Paul Virilio schreibt: "Wir sind am Ende eines Wahrnehmungszyklus angelangt. An anderer Stelle schrieb ich: 'Im Mittelpunkt des Dispositivs der künftigen >Sehmaschinen< steht also die Blindheit, denn die Produktion eines Sehens ohne Blick ist selbst nur die Reproduktion einer intensiven Blindheit, einer Blindheit, die zu einer neuen letzten Form der Industrialisierung wird: der Industrialisierung des Nicht-Blickes.' Vergessen wir darüber jedoch nicht, dass vor der Erfindung dieses letzten 'synthetischen Sehens', die uns angeblich von der 'Tätigkeit des Sehens' befreit, die Erfindung der photographischen Augenblicklichkeit stand (...)." Wenn auch die Entwicklungslinie Virilios die eines militärischen Blicks ist, so zeichnet er dennoch überzeugend die Ersetzung von Auge und Apparat, den Übergang von Sehen zur "Erzeugung von Sichtbarkeit" als Ergebnis einer Unsichtbarkeit, eines Nicht-mehr-Sehens nach, d. h. den Einbruch eines neuen maschnellen Blickes, der keine prothetische Beziehung mit dem Subjekt unterhält, sondern sich vollständig vor dessen Blick schiebt. Wir sehen dann nicht mehr -- es sind die Maschinen, die uns sehen lassen.
Anhand der Komposit-Bilder von NANCY BURSON läßt sich meines Erachtens dieser Übergang nachzeichnen: wohl handelt es sich auch hier um eine Zusammenführung verschiedener Portrait-Köpfe zu einem fiktiven kollektiven Portrait, doch kann man hier nicht mehr von Sehen oder von Überlagerung sprechen. Ausgangspunkt ihrer Komposit-Portraits sind durchwegs schon vorhandene Portraits, sei es von Diktatoren, von "typischen" Portraits verschiedener Ethnien -- wobei sich hier die Frage stellen läßt: was können solche typischen Bilder überhaupt sein --, oder aber von bekannten Schauspielern, d. h. von Stars. Es handelt sich also um die schon erwähnten "standardisierten Subjektbilder", die schon Produkt eines Prozesses der Komplizenschaft mit kollektiven Bildern, die schon eine Verkörperung von Rollen, d. h. von konkreten Figuren des "Bildschirms" darstellen. Nancy Burson repliziert hier also bereits durch das Blickregime festgeschriebene "Blicke des Anderen", in Auseinandersetzung mit diesen wir unsere Subjektivität einüben. War Francis Galton auf der Suche nach typischen Erscheinungsformen, so geht Nancy Burson schon von Typologien aus und potenziert diese in einem quasi tautologischen Verfahren. In gewissem Sinn kann man hier schon nicht mehr von Antlitz sprechen, nicht einmal als Ausgangspunkt, sondern von Formeln, wie solche Antlitze auszusehen haben -- die Konditionierung erscheint offensichtlich.
Blicken wir kurz voraus auf Aspekte in den Arbeiten Inez van Lamsweerdes, um die es sich abschliessend drehen wird: "Through the media women are influenced to want to be thinner, to work on their appearance. Perhaps that's why my photos are always about seduction and desire." (Inez van Lamsweerde) Van Lamsweerde thematisiert in ihren Arbeiten ebenso Normvorstellungen, wie sie etwa über Mode und Werbung suggeriert werden, auch bei ihr ist der Körper sozusagen Metapher für die Fremdbestimmtheit von Selbstentwürfen, für die komplexe Entstehungsgeschichte von Wünschen und Begehren, wie sie sich auf das eigene Selbst richten. Denn auch der oder die Körper sind nicht nur Körper: sie haben Teil an den Signifikations-, an den Zeichenprozessen des Blickregimes -- es geht nicht darum, einen Körper zu haben, der wirklich fit oder gesund ist, sondern einen, der so aussieht.
Wenn auch bei diesen Arbeiten von Nancy Burson eine ganz andere Typologie im Vordergrund steht, so handelt es sich doch auch bei ihr schon weniger um Portraits, sondern um Bildtypen, um zu Bildern gewordene Repräsentationsverhältnisse (um die Beherrschung von Unsichtbarkeit?) -- in jedem Fall um imaginäre Einheiten. Aus dieser Perspektive macht es auch Sinn, nach der Technologie zu fragen -- die verwendete Technik erlaubt nicht mehr zu sagen, die Bilder überlagern sich, sondern sie werden sozusagen vollständig durchmischt, werden auf eine Ebene zusammengerechnet. Für diese Bilder gilt bereits vieles davon, was über die spezifische Verschiebung innerhalb der Fotografie im Zusammenhang mit digitalen Bildtechniken gesagt wurde: "Das synthetische Bild repräsentiert nicht Realität, es simuliert es. Es läßt keine optische Spur, keine Aufzeichnung irgendeiner Sache sehen, die da gewesen ist und die es jetzt nicht mehr ist, sondern erzeugt ein logisch-mathematisches Modell, das weniger die phänomenale Seite des Realen beschreibt als die Gesetze, die es beherrschen. Was dem Bild vorangeht, ist nicht der Gegenstand (die Dinge, die Welt ...), das abgeschlossene Reale, sondern das offensichtlich unvollständige und approximative Modell des Realen, also seine durch reine Symbole formalisierte Beschreibung. Das neue Bild (...) bezeugt eine Interpretation des Realen (...)." (Edmond Couchout) -- Hier erscheint das Bild nicht mehr als "Spur einer aufgeschobenen Präsenz", sondern als "Spur eines maschinellen Prozessierens", und zwar, im Unterschied zu Francis Galtons Technik, eines Prozessierens, das nicht die Kombination von Bildern, d. h. eine Operation mit Bildern, sondern quasi eine Operation in Bildern darstellt. Die verwendeten portraits sind schon Bildtypen, repräsentieren schon bestimmte Subjektentwürfe, auch wenn es sich um Individuen handelt. Das Startum verkörpert heute sozusagen jenen "Kollektivleib", dem Galton mit seinen Versuchen zur Typisierung noch auf der Spur war. Nancy Bursons Arbeiten sind Fotografien, die Fotografien thematisieren und in diesem Sinn keine Referenten bearbeiten, sondern Typologien -- und dadurch einen neuen Referenten zumindest zweiter Ordnung erzeugen. Und dies bedeutet schon beinahe: die Erzeugung neuer Subjekte -- dies wird allerdings erst wirklich virulent im Zusammenhang mit den mittlerweile wohlbekannten Arbeiten von INEZ VAN LAMSWEERDE.
"Vital Statistics" -- Bevölkerungsstatisik -- heisst etwa eine Serie, die einerseits Normmasse von Mannequins und Models thematisiert, andererseits gerade keine durchschnittlichen Typen oder Körper wiedergibt, sie erzeugt vielmehr -- wie in den meisten ihrer Serien -- eine fiktive -- und geradezu sarkastische -- Normierung des Idealen als Durchschnitt und: -- markiert dadurch das Ideal selbst als Fiktion. Zusätzlich fungieren in dieser Serie Kinder als Inkarnationen dieser Ideal-Fiktion, wie auch in der "Final Fantasy"-Serie aus 1993. Hier sind die Kinderdarsteller von einer professionellen Model-Agentur für die Aufnahmen gemietet worden. Das Modell steht also in mehrfachem Sinn immer wieder im Mittelpunkt ihrer Arbeiten: als Norm, als Wertmassstab oder -- wie man geradezu sagen muss -- als Kunstfigur, die längst alle Weihen des Startums erhalten hat. In den Serien von Van Lamsweerde verschränken sich also kulturelle Vorstellungen über Normen, die aus ganz bestimmten Repräsentationszusammenhängen stammen (Werbung, Mode) und die auch in ganz bestimmten ästhetischen Bildformationen und Bildtypen präsentiert werden.
Das erschliesst sich allein schon aus dem Produktionsprozess: sie verwendet die darstellenden Personen buchstäblich als Ressourcen, als Ausgangsmaterial, als Modelle in geradezu technischem Sinn. Nicht nur stammen ihre Modelle fast durchwegs von Agenturen, sie wählt die Kleidung aus (sofern es eine solche gibt), sie bestimmt das Make-up, positioniert die Modelle am Set, bestimmt die Körperhaltungen und Posen bis hin zum Gesichtsausdruck, wählt den Hintergrund und vor allem vertauscht sie in einem weiteren Produktionsschritt Teile von unterschiedlichen Körpern unterschiedlicher Aufnahmen -- sie ersetzt also beispielsweise Körperteile eines Mannequins durch solche von Puppen oder anderen Personen. So sind in der "THANK YOU THIGHMASTER"-Serie bis zu drei verschiedene Referenzkörper abgebildet und miteinander verschmolzen. Wenn also im Zusammenhang mit Fotografie konstatiert werden konnte: "Jedes Subjekt muss gesehen werden um zu sein", so muss diese Formulierung hier modifiziert werden: Manche Subjekte werden einfach errechnet, nicht um zu sein, auch nicht, um als "Schnitt in den Referenten" zu fungieren, aber um sich als Entwurf eines Bildes von Subjektivität in die Kreisläufe des Blickregimes zu schmuggeln. Auch hier ist das Bild nicht mehr "Spur einer aufgeschobenen Präsenz" sondern im eigentlichen Sinn "Spur einer Prozessierung von fiktionaler Präsenz", die ihre Ausgangspunkte nicht mehr in irgendeinem Antlitz sucht, sondern -- wie schon bei Nancy Burson -- in der immer schon vorausgehenden, d. h. primären, kulturellen Verzeichnung der Antlitze. Wie schon bei Galton -- wenn auch, wie immer wieder betont werden muss, unter anderen Voraussetzungen und auch mit anderen Konsequenzen -- und Burson erscheint die Subjektivierungsmschine Bild als verschränkt mit der sozialen Maschine, die ihr vorausgeht, wie es Gilles Deleuze beschreibt: "Nie ist ein Arrangement technologisch, es ist geradezu das Gegenteil der Fall. Die Werkzeuge setzten eine Maschine voraus, und die Maschine ist immer sozial, bevor sie technisch wird. Da ist immer eine soziale Maschine, die die technischen Elemente auswählt oder zuteilt, die Verwendung finden."
Was bei dieser maschinischen Morphogenese, wie sie die Arbeiten Van Lamsweerdes präsentieren, zuallererst verschwindet, ist jedes Anzeichen von Individualität - diese wird durch ein ambivalentes, artifizielles und hybrides Schönheitsideal ersetzt, welches sich auf kein Individuum bezieht, sondern auf durch kulturelle Mechanismen erzeugte Absraktionen, die sich jedem Subjekt überblenden. Sie spielt in diesen Serien mit den Systemen der Beschriftung des (bei ihr hauptsächlich weiblichen) Subjekts durch kulturelle Zeichensysteme, treibt sie auf die Spitze, indem sie die Parameter radikal ändert bzw. erweitert. Schönheit etwa ist nun nicht mehr einem bestimmten (Frauen-) Körper zuschreibbar (und auch nicht mehr, wie bei nancy Burson, einem bestimmten Star), sondern entsteht als künstliche Metamorphose aus ganz unterschiedlichen Körpern -- d. h. als formales Konstrukt. Ideal- und Normvorstellungen, die sich mindestens so radikal wie Tätowierungen unseren Körpern einschreiben, werden als Konstruktion dargestellt, als etwas, wodurch die (bei ihr weiblichen) Subjekte bestimmten Diskursen unterworfen werden, als etwas, das seinen Ausgangspunkt in keinem natürlichen Körper hat, sondern immer schon in einem künstlichen. Kultur produziert künstliche Körper, die jedem natürlichen Vorausgehen. Bilder produzieren ebenso künstliche Körper, die jedem natürlichen vorausgehen. Bestimmte Diskurse dieser Kultur produzieren künstliche weibliche Körper. Alle diese Körper haben mit dem "kollektiven Leib" zu tun.
Was sich als gemeinsame Perspektive dieser Arbeiten abzeichnet, ist also die Thematisierung eines Prozesses, in den technologische Verfahren und Medien im allgemeinen und Bildmedien im besonderen immer schon involviert waren: In der Ersetzung von Blick und Wahrnehmung zeichnet sich eine viel weiter reichende Ersetzung ab -- wenn es nämlich, wie vermutet werden darf, im Rahmen medientechnisch gestützter Verfahren der Interpretation und Aneignung von Realität nicht sosehr um die Modellierung natürlicher Körper geht, sondern um die Konstruktion künstlicher -- wie im Falle der künstlichen Komposit-Portraits Galtons oder der Komposit-Portraits von Nancy Burson. Wenn wir an die Frage der Referenz bei Galton zurückdenken, überlagert oder verschmilzt Van Lamsweerde hier keine natürlichen Körper mehr, sondern fügt immer schon artifizielle zusammen. Wo verläuft die grenze zwischen Körper/Subjekt und Maschine? Ist nicht jeder Körper, jedes Subjekt in seiner Verkettung mit Kultur immer schon ein artifizielles Konstrukt? Wenn wir an die prothetische Beziehung zwischen fotografischer Apparatur und Körper zurückdenken, wie sie Douglas Fogle beschrieben hat, dann erscheinen die Körper bei Inez van Lamsweerde nicht mehr als in diesem Sinn prothetisch erzeugte Konstrukte, sondern geradezu als Inkaranation von Technologie, als Körper, die Technologie längst verinnerlicht haben, mit ihr verschmolzen sind. Und also solche sind sie auch nicht mehr Resultat eines Blickes -- denn: von wo aus könnte dieser Blick auf sie fallen, wenn selbst die Perspektive der technologischen Apparatur eine für diese "Subjekte" immanente darstellt?
Die hybriden Mischwesen, die durch massiven technologischen Einsatz in der Bildherstellung entstehen, Mischwesen, die jede Typologie des Körpers unterlaufen, jede Kategorisierung nach Geschlechtszugehörigkeit, die mithin die kulturell fundierte Funktion des Körpers als Kategorie der Differenz, der Bestimmung von Differenz aufheben, beziehen sich m. E. ausgehend von der Infragestellung des Körpers auf den Umstand, dass Körperlichkeit insgesamt in Frage steht. Und in präzise diesem Sinn gehen sie selbstverständlich über das Projekt Galtons, aber auch über das Konzept von Nancy Burson wesentlich hinaus.
Was wir von uns denken möchten, wie wir erscheinen möchten, wonach wir uns richten möchten etc. ist -- und das manifestieren diese Bilder -- längst eine Frage technologischer Entwicklungen, die auch über das durch die Fotografie generierte apparative Blickregime hinausgehen, weil Blickverhältnisse in ihnen schlicht keine Rolle mehr spielen -- angefangen von der Bio-Medizin, der Immunologie, gentechnischer Verfahren, künstlicher Fortpflanzung etc. Vorstellungen davon, was wir sein möchten, richten sich darüberhinaus innerhalb dieser Diskurse nicht mehr nur auf den Körper, seine konkrete Präsenz im Raum und in der Zeit, sondern auf durch Erfahrungen der VR stimuliertes Begehren: jenseits von Raum und Zeit, d. h. im Wesentlichen: schrankenlos handeln und erscheinen zu können, gar nicht mehr durch einen -- kranken, müden, Umwelteinflüssen ausgesetzten -- Körper belastet frei als Fantasma zu flanieren. Selbst der Kollektivleib ist unter diesen Voraussetzungen kein Artefakt mehr, sondern ein Fantasma. Und als Fantasmen sind die Körper bei Inez van Lamsweerde auch zu lesen: ihrer Geschlechtlichkeit beraubt, sinnlose, da nicht auf Geschlechtlichkeit und Erotik zielende Posen ausführend, stehen sie -- noch, wie hinzugefügt werden muss -- ausserhalb jeder kultureller Ordnung:
"I wanted to express that they have a body that is indeed perfect, but is otherwise useless. They aren't able to have sex. (...) You have to ask yourself what kind of people you produce with this."
"We live in a time in which the fast development of technology makes it possible for us to have to have increasingly little physical contact with each other. Physical intimacy diasappears. Everyone sits behind his computer screen and has contact with others by modem. So there you sit with your perfect body. You can do nothing with it. The body is hermetically sealed. In fact, people are brains, packaged in an artificial shell." (Inez van Lamsweerde)
Wenn die Fotografie eine Subjektivierungsmaschine qua Blick war, sind neuere Technologien Subjektivierungsmaschinen qua Fantasma. Jenseits jeder Blickkonstellation entstehen Subjektfantasmen, Subjektentwürfe, die sehr wohl die "Kräfte der Subjektivierung" beeinflussen, weil sie sie aus den Instanzen der Repräsentation in solche der Fiktionalität verschieben. Kurz: Anstelle des fotografischen Bildes als Medium der Subjektkonstitution erscheint hier der Körper selbst als Medium, als eine mediale Technologie der Produktion von Welt. Er ist selbst zu jener Schnittstelle geworden, als die sich Fotografie etwa noch vor das Auge geblendet hat. Gerade als ein solches Medium ist er im Zentrum der sich epidemisch ausbreitenden Techno-Kultur anzusiedeln und schlägt auf die Mechanismen durch, nach denen sich Subjekte ihre Bilder entwerfen, sich in Bilder projizieren oder durch Projektionen von Bildern entworfen werden. Das Subjekt wird sich selbst zum Medium, durch das es sich entwirft: "Like so many tantilizing digital dreans, morphing holds out the promise of endless transformation and the opportunity to freely make, unmake and remake one's self." (Scott Bukatman) Wir müssen unweigerlich an die Multiple Persönlichkeitsstörung zurückdenken, wie sie Christina von Braun in Parallele zum Film gesetzt hat.
Diese morphotische Metamorphose der Körper -- sich selbst zu revidieren, neu zu entwerfen oder diesen Entwurf wieder zu verwerfen, wobei die Frage kaum mehr zu beantworten ist, in welcher Weise Bild und Subjekt umeinander kreisen, -- diese -- jetzt vollständig technologieimmanent fundierte -- Metamorphose der Körper, wie sie in den Arbeiten Inez van Lamsweerdes auftaucht, diese Austauschbarkeit von Körpern reflektiert insgesamt eine Situation der scheinbar grenzenlosen Kompatibilität im Bereich neuer Bildtechnologien, ein Reich, in dem sich scheinbar alles mit allem mischen kann, jeder Referent verschoben und remontiert. Genau das meint der Untertitel "Vom Antlitz zur Zwischenablage": die Zwischenablage als Metapher für jene - fast - beliebigen Transfers von Bildern, Inhalten, Details, Konzepten, Entwürfen als maschinisches/ technologisches Paradigma der Konvertierbarkeit von Informationen und Bedeutungen über die Welt -- die längst nicht mehr auf ein Antlitz, einen "Schnitt in den Referenten" bezug nehmen. Ein Paradigma, das sich zunehmend die Bilder der Subjekte aneignet und sich unterwirft. Offensichtlich handelt es sich bei jenen fiktiven "Personen" Van Lamsweerdes um maschinische Neuentwürfe von "Personalität", um Momentaufnahmen von in einer Zwischenablege zusammengetragenen Fragmenten von Körpern, von Subjekten.
Wenn man der Frage nachgeht, was sich im Rahmen eines hier nur sehr oberflächlich skizzierten Paradigma der Ersetzung des Subjekts durch Technologie überhaupt noch an Repräsentationen von diesem Körper-als-Subjekt, von diesem vollständig technologisierten "Objekt" herstellen läßt, erscheinen die Arbeiten von van Lamsweerde - und das dürfte mit ein Grund für ihren Erfolg gewesen sein - als eine mögliche Manifestation solcher Fragestellungen. Wenn man nach wie vor davon sprechen möchte, das Bilder Subjektivierungsmaschinen sind, dann müssen wir angesichts dieser ganz anderen Bilder auch von ganz anderen Subjekten sprechen.
"You have to ask yourself what kind of peole you produce with this." (Inez van Lamsweerde)
© Reinhard Braun 1998 - in Auszügen erschienen in FLUSS - NÖ. Fotoinitiative (Hg.), lese '98: Lernfelder. Weinviertler Fotowochen 1994 - 1998, Wolkersdorf 1998. Vortrag gehalten im Schloß Wolkersdorf, Weinviertler Fotowochen 1998, am 22. 8. 1998.
|