TexteReinhard Braun |
Vor dem digitalen Bild
"Auch wer noch traditionell schreibt, schreibt doch im Grunde keine Bücher mehr, sondern Mosaike aus Zitaten und Gedankensplittern."1 Über einen Zustand vor den digitalen Bildern zu sprechen heißt, eine Anstrengung zu vollziehen, "noch einmal jene künstlich-fremde Position zu beziehen, von der aus sie überhaupt in den Blick zu nehmen sind".2 Und dies gilt im besonderen Maße für medientheoretische Überlegungen. Zeitgenössische Medien sind - fast möchte man meinen per se - digitale Medien. Und die Systemumstellungen im Bereich des Telefonsystems und des Kabelfernsehens scheinen dies nur zu bestätigen. Aus diesem Grund ist die Debatte über zeitgenössische "neue" Medien von einem durchgängigen Kompatibilitätsparadigma gekennzeichnet: die Rückführung jeder Darstellung und jedes kommunikativen Ereignisses auf eine Ebene symbolischer Manipulation kennt somit nur mehr diese eine Darstellungsebene: den digitalen Code. "Das Reale (z. B. Ton), das Symbolische (z. B. Schrift) und das Imaginäre (Bilder) werden auf einer Darstellungsoberfläche integriert"3: Hypermedien. Ein (fiktiver) Schritt zurück vor diese Medienintegration bedeutet daher eine Redifferenzierung der medialen Landschaft, bedeutet, bereits von einer Historie zu sprechen: Fotografie, Video, Fernsehen. Von diesen interessieren hier vor allem Video und Fernsehen. Es soll in einem "eiligen Beutezug"4 gezeigt werden, inwiefern diese beiden prädigitalen Mediensysteme zentrale Effekte und sozusagen ontologische Positionierungen von Medien-"Objekten" vollzogen haben, vor allem durch die Implementierung ihrer Logiken in das Feld jener Parameter, die unser Verhältnis zur Welt fixieren, d. h. sie haben nicht nur die "in den neuen Maschinen präformierten Apperzeptionsformen" entfaltet (...), sondern vielmehr maßgebende Erfahrungen, "die die technische Organisation der kollektiven Physis revolutionieren" und damit neue Regionen des Bewußtseins produziert.5 Es geht letztlich um eine Positionierung der Radikalität des digitalen Paradigmas selbst: als wirklich "neues" Medium hereinbrechend ließe sich darüber spekulieren, ob dieser "Chock" nicht buchstäblich "eine als hermetisch empfundene Welt" unter sich zerfallen lassen hätte, ohne "ihre freigestellten Bestandteile wieder zur Disposition" zu stellen6 - eine völlige De- und Rekonstruktion der Welt, die aber nicht nur als "Chock" in sie einfällt, sondern selbst eine Geschichte hat. Teil dieser Geschichte sind neben der Fotografie und dem Film eben auch die elektronischen Medien, die in jedem Fall bereits eine Habitualisierung gegenüber Effekten visueller Massenmedien vorangetriebenhaben - eine Einübung in Medienrealitäten, wofür die Metapher vom "angewachsenen Fernseher" stehen kann: "Die Kopplung zwischen Mensch und Fernsehen wird offensichtlich nicht mehr als Dissonanz zwischen 'natürlicher' und technisierter, verfremdeter Wahrnehmung empfunden, im Gegenteil: Eine bereits perfekt funktionierende Konsonanz des menschlichen Bewußtseins mit dem Fernsehen verhindert die Erfahrbarkeit des Phänomens, daß Kopplung überhaupt stattgefunden hat."7 Womit sich eine (paradoxe) Implementierung medientechnischer Systeme bzw. ihrer Effekte konstatieren läßt: "Fern-Sehen ist ein Organ des Menschen geworden."8 Was sich dabei vollzogen hat, ist eine potentielle Entmediatisierung9: die Unvermitteltheit eines Zugangs zur Wirklichkeit, wie sie audiovisuelle Medien entwerfen, negiert gerade die Distanz, die sie dabei zur Wirklichkeit etablieren, die dann nicht mehr auf der "Oberfläche" unserer Sinne abgebildet wird, sondern nur mehr als Abbild auf diese projiziert wird (was systemtheoretisch wahrscheinlich nicht entscheidend wäre, würde sich nicht eine fundamentale Transformation aller Daten ereignen). Medien dissimulieren pronzipiell ihre eigene Medialität, die sie nicht darstellen, weil sie sich nicht selbstreflexiv auf sich selbst projizieren können, d. h. gegenüber ihren Produktionen und Projektionen keine Meta-Ebene einnehmen können. In ihrem Vollzug verschwindet die Tatsache, daß sie Mittel zu einem Zweck sind. Der Begriff der Medien beschreibt damit nicht nur Operationen "unabhängig von uns dort draußen"10, sondern seit langem schon quasi endogene Prozesse der Wahrnehmung und Verarbeitung von Wirklichkeiten, gerade weil sie ihre Medialität dissimulieren. Die "all involving sensory mandate of the TV-image"11 hat Erfahrung und Erkenntnis schon auf Medienkanäle umgestellt. "Wir leben in einer eingebildeten Welt der technischen Bilder (...) [und] wir verdanken diese Bilder einer Technik, welche ausschließlich aus wissenschaftlichen Theorien stammt (...)".12 Insofern sind die technischen Bilder selbst Produkte von Theorien. Und Vilém Flusser will sie auch als solche verstanden wissen. Es geht ihm nicht um die technische Perfektion der Abbildung, d. h. um Repräsentanztreue, sondern immer um die Modi - und das heißt um die theoretischen Aspekte des technischen Bildes -, die im Hintergrund einer mehr oder weniger akkuraten Abbildung stehen. Denn es sind die in diesen Modi implementierten Dimensionen des technischen Bildes, die über diese Repräsentanz immer schon hinausweisen. Dementsprechend schreibt Flusser weiter: "Ein technisches Bild entziffern heißt nicht, das von ihnen Gezeigte entziffern, sondern ihr Programm aus ihnen herauszulesen."13 Denn selbst eine vordergündige - d. h. als "Effekt" zu bezeichnende - "reine" Repräsentation ist eine Folge dieses Programms, d. h. für Flusser, ein theoretischer Effekt bzw. ein Effekt theoretischer Begriffe. Dementsprechend begreift Flusser technische Bilder auch quasi als "informativen Text". "Ihre Absicht ist nicht, die Welt zu verändern, sondern die Bedeutung der Welt zu verändern. Ihre Absicht ist symbolisch."14 In diesem Sinn geht es auch nicht primär um die konkreten Inhalte der Repräsentation, sondern um die Tatsache, daß es sich um das Produkt eines apparativen Prozesses handelt: die Bedeutung elektronischer (als technische) Bilder liegt darin, den Gegenstand, auf den sie sich richtet, in einen "Sachverhalt" - das, was schließlich der Fall ist - der Medien selbst umzuformen, d. h. in mediale Sachverhalte zu übersetzen (und das gilt letztlich für alle technischen Bilder). "Es geht hier um ein Umkehren des Bedeutungsvektors: Nicht die Bedeutung, sondern das Bedeutende, die Information, das Symbol ist wirklich, und diese Umkehrung des Bedeutungsvektors ist kennzeichnend für alles Apparatische und für die Nachindustrie überhaupt."15 Das "Universum technischer Bilder" schiebt sich zwischen die Welt und ihre Wahrnehmung und übersetzt permanent ihre Theorie in Bilder, die als Bedeutung gerade diese Überblendung zeigen, die sich als Aneignung der Welt durch die Theorie (der Medien) darstellt. Es handelt sich "um einen Symbolkomplex von abstrakten Begriffen, um zu symbolischen Sachverhalten umcodierte Diskurse."16 Was wir beim Betrachten technischer, medialer Bilder sehen, ist zwar ein spezifisches Bild der Wirklichkeit, vor allem aber die Form eines Diskurses deren Erfassung, Vermessung, Aufzeichnung und Darstellung, d. h. Informationen über Wirklichkeit. "Das eben charakterisiert die Nachindustrie: Die Information, nicht das Ding ist wertvoll."17 "Wo Gegenstand war, ist Information geworden."18 Diese Verschiebung der Ontologie des Bildes, seines operationellen Ortes als kulturell beschriftete und die Kultur beschriftende Oberfläche vollzieht sich spätestens seit der Fotografie, gehört jedoch zu den wesentlichen Konsequenzen der Video- und Fernsehtechnologie. Das synthetische Bild der visuellen (Massen-) Medien wird geradezu eine Metapher für die ästhetische Konstitution der Gesellschaft seit den 60er Jahren. "Wenn Texte von Bildern verdrängt werden, dann erleben, erkennen und werten wir die Welt und uns selbst anders als vorher: nicht mehr eindimensional, linear, prozessual, historisch, sondern zweidimensional, als Fläche, als Kontext, als Szene. Und wir handeln auch anders als vorher: nicht mehr dramatisch, sondern in Beziehungsfelder eingebettet. Was sich gegenwärtig vollzieht, ist die Mutation unserer Erlebnisse, Werte und Handlungen, eine Mutation unseres In-der-Welt-Seins."19 "Die technisch reproduzierten Bilder gehen der Welt voraus, die sie abzubilden scheinen. Wenn aber die Bilder das Ereignis besetzen und vorprägen, entfällt das wesentliche Charakteristikum des Bildes - nämlich abbildend einzustehen für etwas abwesendes."20 Durch diese Rückkoppelung, die sich bereits in der visuellen Kulturalisierung der Gesellschaft in den 60er Jahren vollzogen hat - man denke etwa an Robert Venturis "Learning from Las Vegas" - zeigt sich die "Eroberung der Welt als integrales Bild"20 an: dieses integrale Bild umfaßt nicht nur den Schirm der elektronischen Medien, es bezieht sich auf die durchgehende Transformation des Realen in Zeichen und Bilder, in ästhetische Figuren, die ein "pattern recognition" erfordern - keine alalytische Deduktion von allerlei Konnotationen, syntaktischen oder syntagmatischen semantischen Strukturen. Wenn es sich dabei um die Verschiebung hin zu einem "Denken in Konfigurationen"22 handelt, dann lassen sich solche Konfigurationen bereits als "Nachbilder" der Medienmaschinen Video und Fernsehen ansprechen: Medienbilder als mentale Bilder23. Diese Formulierung umschreibt die "Tatsache, daß Images heute mehr als je jeder Darstellung von Wirklichkeit vorausliegen: sie werden uns, lange bevor wir zum ersten Mal etwas darstellen wollen, eingeprägt."24 Bilder sind seit dem Fernsehen immer zugleich Medienbilder. Kultur ist "nicht mehr von der ideologischen Synchronisation eines Über-Ichs oder Gewissens mit einem im Grunde stets schriftlichen, ideologisch durchkomponierten Text abhängig, sondern von einer sentimentologischen Synchronisation der bildlichen Sprache des menschlichen Unbewußten mit der ebenfalls bildgeprägten Sprache moderner Telekommunikation."25 Eine Differenz zwischen der Welt und ihrer medialen Re-Duplikation wird im und durch das Fernsehen bereits tendenziell eingezogen. Die Rezeption als strukturelle Koppelung zwischen Medienbild und Bewußtsein erzeugt bereits (vor jeder "virtual reality"-Simulation) "die operative Fiktion, an einer gemeinsamen Realität beteiligt zu sein, die die eigentümliche Passivität des Zeitungslesers und Fernsehers zur grundlegenden Form sozialen Verhaltens macht"26 "Medienrealität - und das gilt nicht erst seit der Habitualisierung audiovisueller Medien, dann jedoch mit zuvor ungeahnter Intensität - kann somit nicht nur in Konkurrenz zu anderen Realitätsebenen der Alltagswelt treten, sondern die kollektive 'Vorzugsrealität' bilden."27 Wir sind also bereits im Bild gewesen, bevor uns "virtual reality" dort durch das (geborgte) Zauberwort "Interaktion" zu einer eigentümlichen Aktivität zu stimulieren begonnen hat. Sie haben damit aber die Fiktion rationalisiert, "den Menschen an einen beliebig gewählten Ausschnitt der Realität derart (...) [anzuschließen], daß er sie so erlebt, als befände er sich tatsächlich in ihr."28 Solche Ausschnitte der Realität nehmen jetzt keinen Umweg mehr über mediale Vermittlungsmechanismen, sie werden einfach durch digital operierende "Maschinen" errechnet: wo Gegenstand war, ist Information geworden, zunächst war dort aber das elektronische Bild. Dabei wirkten die allgegenwärtigen Bildschirme "als Bild-Schirme auch in dem Sinne, daß sie einen - Philosophen würden sagen: ontologischen - Vorrang des Bild-Seins vor dem Sein durchsetzen."29 Diesen Vorrang prozessieren jetzt die digitalen Hypermedien sozusagen buchstäblich und immerfort: Wo Gegenstand war, ist jetzt nur mehr Information. Es geht bei dieser medialen Archäologie also nicht nur um Strategien der Darstellung durch elektronische Bilder, sondern um Strategien der Integrierung des Realen in den Kontext einer (elektronisch generierten) Darstellungstechnik, als die Video und Fernsehen sich systemisch formiert haben, wodurch bereits die Wirklichkeit selbst anschlußfähig wurde an elektronischen Bild- bzw. Mediensysteme. "Die absolute Entgrenzung der Medien zielt ganz unromantisch auf eine zweite Natur, hinter der es keine erste mehr gibt."30 Und diese "neuen Objekte" der zweiten Natur durchsetzen die erste Realität nicht erst seit der Entwicklung des digitalen Bildes, sondern betreiben ihr Projekt der Distanzierung als Dissimulation von Distanz seit den ersten gelungenen Versuchen, die die Natur gezwungen haben, sich "selbsttätig" in ein Bild einzuschreiben. Seitdem betreiben die technischen Bilder die Schrift der Welt, nicht mehr als Schreibstift der Natur, sondern als Schreib/Lesekopf audiovisueller, elektronischer Medien. Verstehen ist kein hermeneutischer Prozeß an einem geschriebenen Text mehr, sondern das entziffern von Medienbildern. "Das synthetische Bild [und Medienbilder können unschwer als solche identifiziert und charakterisiert werden] repräsentiert nicht das Reale, es simuliert es. Es läßt keine optische Spur, keine Aufzeichnung irgendeiner Sache sehen, die da gewesen und die es jetzt nicht mehr ist, sondern erzeugt ein logisch-mathematisches Modell, das weniger die phänomenale Seite des Realen beschreibt als die Gesetze, die es beherrschen. Was dem Bild vorangeht, ist nicht der Gegenstand (die Dinge, die Welt ...), das abgeschlossene Reale, sondern das offensichtlich unvollständige und approximative Modell des Realen, also seine durch reine Symbole formalisierte Beschreibung. Dadurch kehrt sich derjenige Raum, in dem bislang das Reale und das Bild umeinander kreisten, um in eine wechselseitige Anziehung beider. Das neue Bild (...) bezeugt eine Interpretation des Realen, die mit der Sprache ausgearbeitet und von ihr gefiltert ist."31 Es handelt sich um ein radikales Projekt der Darstellung, Wirklichkeit wird dabei permanent auf eine Darstellungsebene transformiert, es "findet eine technisch fortgesetzte Semiotisierung der realen Welt statt: wo die Medien zu Botschaften werden."32 Denn: "Das Bild der Welt muß aus der Welt semiologisch 'deduziert' werden."33 Diese ständige Aneignung des Realen in einer Darstellung durch das Medienbild, die permanente Projektion eines (Medien-) Sinns in all die Wirklichkeitsfragmente, die die technischen/elektronischen Bilder montieren, führt zu einer intensiven "Semantisierung der Wahrnehmungsgegenstände", zu einer Re-Semantisierung des Realen selbst. Sinn und Bedeutung sind spätestens seit dem Fernsehen Projektionen der (visuellen) Medien: "Die Welt enthält keine Information [und damit schon gar keinen Sinn], die Welt ist, wie sie ist."34 Medien produzieren einen Meta-Text bzw. zahllose Sub-Texte über die Welt, der/die großteils aus Fragmenten montiert sind, in denen man "etwas lesen kann, was nie geschrieben wurde"35. Fernsehen verschleiert durch die Zusammenlegung von Information (Welt) und Informationsträger (elektronisches Bild) konstitutiv die Tatsache, daß wir längst in einer Rückkoppellungskultur36 leben, die alle Kontexte der Produktion von Bildern und ihre Vermittlung und Verbreitung erfaßt hat und die jedes "Ding-an-Sich", jedes Objekt aber auch jedes Subjekt, dessen Abbildung und Wiedergabe, zu einem verschlungenem System bzw. Prozeß der technischen Ver- und Neuzeichnung werden läßt. Was dabei evident wird ist die Tatsache, daß es sich (besonders beim Fernsehen) nicht nur um eine besondere Logik der Darstellung handelt (etwa eine besondere strukturale Verknüpfung von Bildsequenzen, Bildschichten, Bildzeiten etc.), sondern daß diese Logik das Sichtbare, die "andere Welt" gegenüber den Medien, immer schon erfaßt und strukturiert. "Die technischen Bilder üben die Syntax des Realen ein."37 Die Medien bilden sich zunehmend auf die Welt ab. Gerade "Massenmedien verwandeln alles, was sie aufzeichnen, in ein Präparat ihrer Aufzeichnungen."38 Als Massenmedium hat das Fernsehen im besonderen bereits eine selbstreferentielle Referenzebene ausgebildet, die darüber entscheidet, was sich als real darstellt und was nicht. Die Semantisierung des Realen, die sich dadurch vollzieht, produziert in hohem Maße "Images", Bildtypen, einen medialen Topos, der das Reale nicht nur an das Medium anschließt, sondern an all die verschiedenen Zeichströme, die die Kultur organisieren. Was nie geschrieben wurde, läßt sich dennoch in ein mediales Zeichen(feld) transformieren, die sich in einer dissimulativen Operation als Referenzebene zwischen Medienbild und Wirklichkeit schieben: "(...) historisch entstandene und allzu vertraute, automatisierte 'Wirklichkeit' von Images, Sichtweisen, Elementarnarratemen und -situationen, Kollektivsymbolen usw. - kurz, von Stereotypen, ohne daß diese Stereotype noch so etwas wie einer 'echtgeschöpfte Realitätsvokabel' (Hermann Broch) entgegengesetzt werden könnte,"39 Fernsehen arretiert, organisiert, arrangiert und kombiniert Sequenzen elektronischer Bilder, wobei es "einer Handlung niemals erlaubt, eine selbständige, semantisch bedeutsame und einheitlich narrative Konfiguration zu entwickeln".40 "Die der postmodernen Kunst zwischengeschaltete Referenzebene [und als solche tritt das Fernsehen in Erscheinung] ist Ausdruck der Tatsache, daß Images heute mehr als je jeder Darstellung von Wirklichkeit vorausliegen; sie werden uns, lange bevor wir zum ersten Mal etwas darstellen wollen, eingeprägt."41 Und Fernsehen ist einer der visuellen Kontexte, der diese Prägung etabliert hat und vorantreibt. "(...) heute gibt es Segmente von Wirklichkeit, die nur deshalb wirklich (und wahr sind), weil sie auf dem Bildschirm des Fernsehens erscheinen. Die wirkliche Wirklichkeit findet im Fernsehen statt."42 "Wo sich heute ein Ereignis vollzieht, ist es vom Kreise der Objektive und Mikropgone umringt und von flammenden Explosionen der Blitzlichter erhellt. In vielen Fällen tritt das Ereignis selbst ganz hinter der 'Übertragung' zurück; es wird also in hohem Maße zum Objekt"43 - zu einem Objekt medialer Manipulationen. Und diese Bildtypen als Ereignistypen lassen sich lange vor dem digitalen Bild nicht mehr auf einen materiellen Bildträger reduzieren, sie stellen bestimmte Signalverteilungen dar, die sich auf einem entsprechenden Speichermedium zwar fixieren lassen, ohne jedoch von diesem repräsentiert zu werden. "Die 'Trennung der Botschaft vom Körper des Boten' ist nicht nur ein kulturgeschichtlicher Fluchtpunkt von mehr als zwei Jahrtausenden telekommunikativer Entwicklung. Sie ist zugleich Metapher für die politische Ökonomie des historischen Prozesses hin zur Entmaterialisierung des Austauschs bzw. Verkehr der Menschen untereinander (mit dem Warenverkehr als ideelem Gesamtverkehr). Sie ist Sinnbild der zunehmenden Eliminierung der sinnlich-körperlichen (Selbst-) Erfahrung unserer alltäglichen Lebensbeziehungen (...)"44 In diese Immaterialisierung des gesellschaftlichen Austauschs reihen sich aber schon die elektronischen Bilder ein. Und schon das Videobild etabliert sich fern dem Subjekt: "Man kann diesen Oberflächen-Raum nicht bewohnen; er weist die Physis des Zuschauer-Körpers ab oder transformiert sie in einer Weise, durch die Subjektivität und Gefühl entlang horizontaler/ vertikaler Koordinaten 'frei-fließen' oder 'frei-fallen' können. Das Subjekt wird völlig dezentriert und tritt gänzlich nach außen (...)."45 "Und doch ist das Bild, das auf dem Bildschirm erscheint, paradoxerweise immer Lichtjahre entfernt, es ist immer ein Tele-Bild. Es befindet sich in einer ganz eigentümlichen Entfernung, die man als für den Körper unüberwindbar bezeichnen kann."46 Wenn es zumindest eine heuristische Perspektive darstellt, zu behaupten: "Die Effekte eines Mediums sind völlig unabhängig von ihrem Programm"47, dann lassen sich den visuellen Ekstasen des Video- und Fernsehbildes bereits "Effektivitäten" zuschlagen, die zumeist (erst) im Rahmen digitaler Medien debattiert wurden: namentlich "virtual reality"-Entwürfe, die als kognitive Koppelung der Bilder mit dem Bewußtsein beschrieben werden, als Zerebralisierung technischer "Armaturen der Sinne", als "Transfer des Bewußtseins in den Computer"48. Sie sind aber selbst in dieser Radikalität als Fortführung eines medientechnischen Projekts zu sehen, das mit der Fotografie begonnen hat und das sich als ein Projekt der Manipulation beschreiben läßt: einen "Text" zu entwerfen, in dem das Reale, das Imaginäre und das Symbilische gleichermaßen operabel und damit manipulierbar werden, d. h. die Entwicklung einer universellen (Re-) Präsentationsebene. Als symbolmanipulierendes System hat erst der Computer in seinen unterschiedlichen Formen diese Utopie realisiert, weil er erstmals eine vollständig kalkulisierbare Konvergenzebene dieses Darstellungsprojekts etabliert hat. Das Reale und das Imaginäre aber waren bereits Gegenstände einer prä-digitalen Manipulationsmaschine, die sie nicht nur operationalisiert, sondern auch, wie hier zu montieren versucht wurde, eminent affiziert und transformiert haben. Seit der (wenn auch nicht restlosen) Operationalisierung auch des Symbolischen als Maschinensprache heißt Darstellung, eine Zeichenkette zu artikulieren und zu prozessieren, eine Zeichenkette, die jetzt keinen Unterschied, der einen Unterschied macht, kennt, außer jenem zwischen 0 und 1: Hypermedium. Das einzige, das sich dieser Darstellungsebene noch entzieht, ist der "'Rest Mensch', der zurückbleibt, während seine Erweiterungen immer weiter reisen, als 'überflüssiger Körper'."49
1 Norbert Bolz, Am Ende der Gutenberg-Galaxis, München: Fink 1993, S. 202. © Reinhard Braun 1994 erschienen in: Medien.Kunst.Passagen 04/1994 |
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