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Texte


Reinhard Braun
Ambivalente Reality - lustvoller Konsum?
Anmerkungen zu einem temporären Medienphänomen

"Aber so ist das moderne Leben, nicht wahr? (...) In unserem Leben haben wir es die meiste Zeit über gar nicht mehr mit realen Dingen zu tun. Wir beschäftigen uns und reden mit Leuten, die wir persönlich gar nicht kennen, tun so, als würden wir uns an Orte begeben, wo wir in Wirklichkeit niemals hinkommen, erörtern Dinge, die bloß Namen sind, als wären sie so real wie Steine oder Tiere oder sonstwas. Informationszeitalter? Blödsinn, es ist das Imaginationszeitalter. Wir leben in unseren Köpfen. Nein, eigentlich leben wir in den Köpfen anderer Leute." (Tad Williams, Otherland)

Was findet sich aber in den Köpfen anderer Leute, die immer auch wir selbst sind? Eine abstruse Menge an Bildern, Bildsequenzen, Bildfragmenten, unter anderem. Wo aber hört der eigene Kopf an und wo fangen die anderen Köpfe an? Was liegt jenseits aller Köpfe?

"Yesterday I watched TV ... (...) those fucked up crime movies ... right around christmas time ..." ..." - Wo hört Fernsehen, wo hören die Medien auf und wo fängt unser Leben, unser eigener Kopf an? Welche Geschichten werden aus diesen surrealen Überlagerungen erzeugt? Sind wir Frau/Herr über unsere eigenen Erinnerungen? Welche Geschichten lassen sich in der Rückkoppelung an Medienformate nicht erzählen? Mit welchen Mitteln werden diese Geschichten nicht erzählt? Was ereignet sich zwischen den Bildern, zwischen den Medien, zwischen den Köpfen anderer Leute, die schließlich niemand anderer als wir selbst sind?

"at midnight they showed a movie part crime part love story." Immer wieder Fernsehen. Überleben heisst, sich diesen Bildern zu stellen, diese Bilder zu entstellen, sie sich anzueignen, diese Bilder, die in den Köpfen anderer Leute gespeichert werden wie ein imaginäres Tagebuch. "if you want to be free, you have to accept that you are ... nothing ... absolutely nothing ... 10 minutes later he was dead. Shot by the persuer of his daughter and his son in law, who actually were on the run. They made it to Mexico." Weihnachten 2000. Eine Weihnachtsgeschichte der Isolation, von Gewalt, Verführung und Rettung. Bloß: welche Gewalt, welche Verführung und welche Rettung?

Alles ist entzwei, alles ist geborgt oder gestohlen. (Steven Shapiro, Doom Patrols)

Die Zeichnungen Edda Strobls, eine Traumgeschichte über ein merkwürdiges, fast zufälliges und unbeabsichtigtes Ertrinken, und eine Art Weihnachtsgeschichte, entstanden in Chicago während eines Stipendienaufenthaltes. Sie sind Teil eines geplanten Comics. Es sind Bilder und Geschichten, die sich auf Bilder und Geschichten beziehen, die anderen Bildern und Geschichten zu widerstehen versuchen, möglicherweise. Kunst als Therapie? Kunst als Verfügungsdiskurs über Erzählungen und damit Erfahrungen, als Konstruktion eines eigenen Kontextes, als Kontrolle von Referenzen, als Kontrollversuch über Verführungen und Gewalt, als Kontrolle über den eigenen Kopf? To get rid of those fucking crime movies? Vielleicht. Aber man darf sich nicht zu viele Hoffnungen machen. Es geht sicherlich nicht um die romantische Geschichte einer Befreiung oder eines Exorzismus, um Gegenbilder, um Subversität. Diese Zeichnungen stehen in Zusammenhang mit einem sich fortlaufend erweiternden Tagebuch. Sie stehen in Zusammenhang mit den bisher entstandenen Zeichnungen, den Outlines von Zeitungscovern, der Überlagerung von Comicsfiguren und der Transformation von eigenen Arbeiten und Fotografien in Umrisszeichnungen. Es sind Geschichten über die Konstruktion einer eigenen Geschichte mit den Mitteln der Verarbeitung, Deformierung und auch Auslöschung anderer Geschichten. Könnte dabei aber so etwas wie eine eigene Geschichte überhaupt entstehen?

"Die einzige Verwendungsmöglichkeit von Wörtern und Bildern ist, sie uns anzueignen, sie zu verdrehen, sie gegen sich selbst zu richten. Wir können sie uns nur ausleihen und sie verschwenden: das ausgeben, was wir nicht selbst verdient haben und was uns nicht einmal gehört." (Steven Shapiro, Doom Patrols)

Nicht umsonst erinnern die Comic-Sequenzen an Traumbilder, an sich traumähnlich unkoordiniert und para-logisch organisierende Geschichten. Aber was könnte bei der Verdichtung und Verdrehung dieser Bilder - Kitsch, Gewalt, Medien, Kitsch, Gewalt, Gewalt, "those fucked up crime movies" -, die uns nicht gehören und die wir (uns) nicht verdient haben, sonst schon herauskommen? Gegenwirklichkeiten von Phantasmen stehen prinzipiell auf wackeligen Beinen: welcher Wirklichkeitsgehalt liesse sich gegenüber Hirngespinsten ins treffen führen? Die Köpfe anderer Leute sind nicht voll von Bildern, weil sie wahr sind, sondern weil sie voll von Bedeutung sind, weil sie voll von Verführung sind. Wie die beiden Jungen, die das Mädchen hinaus aufs Meer verfolgen und sie ertränken. Das schwimmende Mädchen selbst erkennt ihr Ertrinken erst, als sie schon in die Bewußtlosigkeit fällt. Metaphern? Jemand hat geschrieben, dass Medien wirksame Metaphern sind, weil sie in die Organisation von Wirklichkeiten hinausgreifen. "Living in Video" war schon Anfang der 80er in der Hitparade. Es stellt sich also als ziemlich kompliziert und verwickelt heraus, nicht permanent die Köpfe anderer Leute zu plündern. Kollektive Bildwelten ließe sich das bezeichnen.

"Black water, empty beach of concrete. And this wall, dividing the water ... on the left a gigantic swimming pool. on the right the ocean ..." Links der Swimmingpool und rechts der Ozean, black water. Erfahrungen zwischen Ordnungs-, Herrschafts- und Kontrollfantasien, Unterhaltung und Konsum einerseits, Verführung, Entfremdung, Unterdrückung, Disziplinierung, Macht und Gewalt andererseits. Selten jedoch derart klar voneinander getrennt. Die Konstruktion eines eigenen Ortes erfolgt also mithilfe der Konstruktion von Cäsuren. Wir haben uns angewöhnt, uns genau dort zu befinden, womit wir uns gerade nicht identifizieren. Zwischen den Bildern, möglicherweise. Damit aber grundsätzlich niemals jenseits dieser Bilder.

Die Weihnachtsgeschichte beginnt mit: "Silence now!" - dem Versuch einer Distanzierung, einer punktuellen Reorganisation? Ein Zurückdrehen der Lautstärke, um ein wenig nachdenken zu können, ohne jeoch das Gerät völlig abzuschaten, nicht völlig von den Bildern in den Köpfen anderer Leute abgeschnitten zu sein, ohne die die Welt als black water zurückzubleiben droht?

... to be continued.



© Reinhard Braun 2001

erschienen in:
<rotor> (Hg.), Jahrbuch 2000, Graz 2001



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last modified on 2002 04 09 at 19:40 by braun /