TexteReinhard Braun |
... running to stand still.
Es erscheint durch vielerlei Symptome gegenwärtig angezeigt, daß der Raum eine zunehmende Krise erlebt bzw. genauer gesagt, die Organisation von Räumen, ihre Definition und Besetzung. Diese Schwierigkeit, Räume zu konstruieren, rückzugewinnen, erneut zu funktionalisieren bzw. zu symbolisieren, liegt nicht allein darin, daß auch der Raum eine Ressource ist und immer schon auch in einem quantitativen Verhältnis zu seinen - agrarischen, urbanen usw. - Kontexten und Konzepten stand. Entwicklung und Fortschritt - Expansion - ist in jedem Fall eine Erweiterung, Überschreitung von Räumen und Orten, eine Verdichtung und Aufladung, die irgendwann eine kritische Dimension erreicht, mit der der Raum, seine Besetzung und Inanspruchnahme kollabiert und Räume plötzlich Zonen von Dysfunktionalität werden. Diese Ebene betrifft die Überdeterminierung des Raumes als Schauplatz von objekthaften und objektorientierten Manifestationen, Fortbewegungen und Transporten (wenn jeder urbane Raum etwa auch ein Verkehrsraum ist, auch ein Handels-, Einkaufs-, auch ein Tourismusraum ist - und auch ein Schauplatz für das Begehren an der Symbolisierung und Repräsentation, der Markierung durch symbolische Objekte: Architekturen, Skulpturen, Platzgestaltungen, Naturfragmente etc., die eine zweite Ebene der Funktionalität des Raumes einführen, nämlich auch Träger von Bedeutungen zu sein, letztendlich ein Ort, an dem kulturelle Codes formuliert werden). Neben diesem sozusagen symbolischen und physikalischen Grenzwert des Raumes, des Ortes, einer Lokation als bestimmbare und lokalisierbare, d. h. addressierbare Größe innerhalb einer Topografie, existiert allerdings auch ein gewissermaßen systemtheoretischer: der Begriff des Raumes und des Ortes als konvertierbarer und kompatibler Wert im Rahmen von Kulturtechniken, etwa was den Verkehr betrifft, die Ware, die Produktion, d. h. im Sinne von Infrastrukturen und wiederum auch, was die Reproduktion und Artikulation von kulturellen Werten anbelangt. Der Raum muß alle diese funktionalen und symbolischen Ansprüche (er-)tragen und in der Lage sein, ein Vokabular für ihren Transport und ihre Verbreitung zur Verfügung zu stellen (der Bau einer entsprechend codierten Fassade etwa hat nur Sinn, wenn der Raum, in den hinein sie sich wendet, ein Schauplatz für das Lesen dieser Präsentation ist, d. h. eine Rezeption stattfindet; diese Rezeption wiederum setzt ein zeitlich abschätzbares stabiles Verhältnis der validen Codes voraus). Dieser Grenzwert der Konvertierung und Vermittlung bezeichnet jetzt allerdings genau die Verlagerung der konstitutiven Größen nicht nur dieses Sprechens im und durch den Raum, sondern vor allem auch der Produktionen und Austauschverhältnisse, die noch darin oder um den Raum zentriert stattfinden. Analog zur Warenproduktion und -distribution und all ihrer Kontexte (die noch immer das Soziale als Fokus der Gesellschaft überdecken): Entwicklung, Organisation, Werbung etc., all diese Kontexte der Ware und schließlich diese selbst werden - nicht erst seit heute - zunehmend durch Prozesse und Trägersysteme bestimmt, die sich vom Raum, vom Ort, d. h. von euklidischen topografischen Systemen (und damit auch vom Objekt) entfernen und dieses Kategoriensystem verlassen. Die gegenwärtig quasi neuralgischen, hochbesetzten und überdeterminierten Waren sind weniger Objekte als vielmehr funktionale Syndrome, die sich durch ihre fortwährende Miniaturisierung augenscheinlich vom Objekthaften zu lösen versuchen (ein neueres Beispiel etwa der von Apple entwickelte multifunktionale "Newton" in der Größe einer Tafel Schokolade). Auch traditionelle Genres wie etwa die Werbung, als Sprache und Suggestion in den Raum hinein, Werbung als "Bestrahlung" eines Ortes stellt nur mehr eine marginale Strategie der Werbung insgesamt dar; das Plakat als flexible sprechende Fassade ist mithin kein zentrales "Medium" mehr, um einen Adressaten dieses Sprechens zu erreichen, seine Aufmerksamkeit und sein Begehren haben sich woanders hin verlagert, auf noch flexiblere und variablere Oberflächen hin. "Der eigentliche Kernpunkt - daß der öffentliche Raum verschwunden ist - zeigt sich daran, daß der telematische Raum nur ein Symptom ist, wie durch die gesamte Technisierung, durch die Techno-Transformation der Welt, der Abstraktionsgrad derart angestiegen ist, daß die leibhaftige plastische Erfahrung nicht mehr diesem Abstraktionsgrad entspricht, den die Gesellschaft in ihrem Gesamtzustand erreicht hat."1 Die Auslöschung der physikalischen Räume, die doch eine Garantie zu sein scheinen, daß etwas überhaupt zur Erscheinung gebracht werden kann, daß etwas gegenwärtig und präsent ist (paradigmatisch in der Gestalt des Museums), geschieht also als paradoxe Konsequenz einer Präsenz und Anwesenheit, eines Zugriffs auf einen abstrahierten Ort durch die Zeit (auch aus diesem Grund darf die Zeit nicht wirklich gegen Null gehen, ist ein Rest an zeitlicher Distanz notwendig, damit das System nicht implodiert und noch irgendwelche Unterscheidungen getroffen werden können). Die Operationen der Medien gehen also buchstäblich "durch den Ort hindurch" (wie die Macht nach Foucault durch das Subjekt hindurch geht), sie bilden nicht einmal mehr eine Schnittfläche, quasi einen Schatten des Ortes, etwa wie die verschiedenen isometrischen Darstellungsverfahren der Architektur, die dabei etwas von der Struktur und der Tektonik eines Raumes, eines Gebäudes etc. sichtbar machen, was ihre Realisierung teilweise verbirgt oder nur schwer zugänglich und rezipierbar macht. Die mediale Transformation des Raumes und der Orte stellt demnach nicht einmal mehr die Entbergung eines Ortes dar, keine Operation der Transparenz des Ortes, sondern eine Operation der distinkten Zeitstrukturen und deren de- und encodierten Repräsentationen auf einer anderen als einer architektonischen oder öffentlichen Oberfläche: das Paradigma der medialen Metastasen der Gegenwart ist der Bildschirm, der Monitor. Diese sozusagen nervöse, weil beschleunigte und beschleunigende Oberfläche richtet sich nicht mehr auf ein konstantes und stabiles Soziales, wie es im historischen öffentlichen Raum sich konstruierte und Schauplatz von Repräsentationen war, die den Gang dieses Sozialen bestimmten, kommentierten oder illustrierten (von den Straßentheatern bis zur Hinrichtung). Am Bildschirm wurde endgültig manifest, "daß die Schicht der Zeichen und der Symbole nicht mehr im materiellen Bildträger verankert ist"3. Die Konsequenzen dieser Verlagerung trifft das Subjekt nur mehr wie ein Schein (wie Baudrillard sagt, wird als eines der schönsten Bilder des 20. Jahrhunderts jenes eingehen, in dem ein Mensch an einem Streiktag vor seinem Fernsehapparat sitzt und den leeren Bildschirm betrachtet). Die Medien repräsentieren also exemplarisch eine vollständige Umbesetzung und Neubesetzung nicht nur von Objekten, sondern vor allem von Territorien und Räumen. Der Raum als dreidimensionale topografische Erscheinung wird zunehmend zu einer Leerstelle innerhalb dieser neuformierten kulturellen Mechanismen und Operationen, zu einem Zeit- und Funktionshohlraum für gesellschaftliche Transaktionen und Austauschvorgänge (symptomatisch für dieses Phänomen ist die zunehmende Bestrebung, Innenstadtbereiche als historische Stadtkerne rückzugewinnen; es handelt sich dabei um eine Entlastung von dieser Dysfunktionalisierung, die Re-Definition des städtischen Raumes, jetzt nicht mehr als funktioneller sondern als symbolischer, als symbolische Gegenwart historischer kultureller Erscheinungsformen des Raumes). Die Musealisierung nicht nur von urbanem Raum wird zu einem Symptom für die "Substituierung des mathematischen Raumes für den aristotelischen Raum der unmittelbar sinnlichen Erfahrung"4. Wahrnehmung und Definition gesellschaftlicher Modalitäten findet nicht mehr im Raum statt, sondern durch und auf den Oberflächen der Medien (dementsprechend muß der Raum in irgendeiner Weise redefiniert werden). Deren Informationsoberflächen und Bilder betreiben eine buchstäbliche Translokation: nicht nur, daß sie eine topografische Verschiebung initiieren und weitertreiben, d. h. auch den Begriff der Topografie neu formulieren, nicht nur, daß sie eine Übertragung von völlig unterschiedlichen Eigenschaften auf den traditionellen Raum durchführen oder Orte jenseits geografischer und empirischer Grenzen konstruieren, sondern sie instrumentalisieren selbst das Subjekt in Verhältnis zum Raum neu. Stellt die Architektur bis heute immer auch ein Gehäuse für das Subjekt dar, ein Meta-Objekt für das "Objekt Mensch", und stellt das apparative Fahrzeug, die mobile Architektur oder ähnliche Konzepte eine Form der Annäherung an dieses Objekt dar, den Versuch, das Gehäuse quasi zu assimilieren und poteniell zum Verschwinden zu bringen, so entledigen die Medien das Subjekt von der Notwendigkeit eines Gehäuses, weil sie den Begriff immanent neu formulieren und inszenieren. "Cyberspace", "Virtual Communities" und andere Konzepte umgehen das Konzept der buchstäblichen Einschließung des Subjekts und orientieren sich vielmehr an seiner partikulären Übersetzung in das Medien-System selbst. Diverses Oberflächen zur Datenkonversion - die jetzt nicht mehr als Gehäuse sondern als Subjektoberfläche selbst anzusprechen sind: Datagloves, Datasuits - virtualisieren die Objekt-Bezüge des Subjekts und richten sich nurmehr als Datenabfrage auf seine Oberfläche bzw. - noch - als Utopie an die konstitutiven Subjekt-Daten selbst: das Gehirn. An dieser Konstellation wird deutlich, daß es nicht einmal mehr um Bilder geht, um eine repräsentative Oberfläche, sondern um die komplette Abstraktion selbst der Oberflächen (und der ihr innewohnenden Modelle und Mechanismen, wie im Fall des Subjekts). Drastischer läßt sich die Aufgabe des Raumes als Sphäre, in der sich etwas ereignet, das noch als Bedeutung interpretiert wird, kaum darstellen. Die radikale Translokation, die die Mediensysteme durchführen, ist also nicht die Übermittlung von Ereignissen an andere Orte (Radio, Fernsehen, Geld), nicht die Visualisierung der Kultur über die Oberfläche des Bildschirms, sondern die strategische und permanente Suggestion, daß es selbst den "Ou-Topos", den Ort jenseits aller Orte nicht gibt, d. h., indem die Medien jede Form der Transzendenz negieren, formulieren sie bereits das Diesseits als "Ort" des Jenseits, der nur sein kann: das technologische Jenseits selbst. Der Monitor bleibt allerdings - vorläufig noch - der Ort, die Oberfläche und Schnittstelle, an dem diese Suggestion und Annexion zur Erscheinung gelangt. Letztendlich steht hinter dieser Transgression des Raumes eine Sehnsucht des Subjekts: sich endlich radikal zu befreien, als "reines" Denken und Handeln aus der Sphäre der Objekte zu treten (die, wie Lacan gezeigt hat, eine fatale Dimension für das Subjekt hat): "Let me now confess the reason why I fell for artificial life. Just before I die I would like to be able to copy much of my knowledge, my intelligense, my entire consciousness onto a computer and thus be able to live inside the chips."5 - Die Utopien der Unsterblichkeit haben den Körper als begehrenswerten Sitz dieser Unsterblichkeit hinter sich gelassen und richten sich jetzt auf die Sphäre der digitalen Systeme, die sich etwa im Modell der neuronalen Netzwerke allein am Bewußtsein orientieren und als Perspektive dessen Verdoppellung und Konservierung haben. - Die Entsetzung des Raumes ist in letzter Konsequenz also eine Transgression des Subjekts in die Sphäre der Systeme; die Interfaces fungieren dabei als Transmutoren dieser Befreiung, des Austritts des Subjekts aus seinen körperlichen Fixierungen und damit in eine Ordnung hinter den Objekten, hinter der Sprache, hinter dem Begehren, eine Ordnung, die dem Subjekt verspricht, sich jederzeit beliebig artikulieren zu können, beliebige Gestalt anzunehmen, jeden Ort der Erde und noch darüber hinaus erreichen zu können - ohne sich noch jemals von der Stelle zu bewegen. Das Ende der Bewegung ist das Ende des Raumes; wenn es bereits ein Gemeinplatz ist, daß das gegenwärtige Individuum konstitutiv gespalten ist, dann verschärft die Tele-Technologie diese Spaltung, indem sie dem Subjekt die Möglichkeiten gibt, sich partiell zu entäußern und über und durch diese strategischen (und immer schon systemisch determinierten und vorstrukturierten) Entäußerungen Wunschphantasien zu realisieren, die es als Subjekt aus dem Raum in eine Zone befördern, in der jetzt alles nicht nur eingebildet, sondern auch "tatsächlich" erlebt werden kann. Der Grenzwert der Translokation berührt also nicht nur den Raum, sondern radikal auch das Subjekt, das dann ebenfalls kein Ort mehr ist, an dem sich ein Soziales als komplexes Modell von Wahrnehmung, Erkenntnis, Sexualität usw. am Körper ereignet, sondern ein Ort, der die Abstraktion des technologischen Jenseits' absorbiert hat und sich sozusagen neben dem Raum wie neben dem Körper auf der Stelle bewegt.
1 Peter Weibel in einem bisher noch unveröffentlichtem Interview durch Thomas Feuerstein und Romana Froeis für den Verein "TRANSIT" auf der Ars Electronica 1993. © Reinhard Braun 1993 erschienen in: Marc Mer und Thomas Feuerstein (Hg.), "Translokation. Der ver-rückte Ort. Kunst zwischen Architektur", Triton: Wien 1994 |
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