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Texte


Reinhard Braun

Ambivalente Reality - lustvoller Konsum?
Fußnoten zu einem temporären Medienphänomen


Die Frage nach der Wirklichkeit angesichts von Medienprodukten oder Medienformaten mutet mittlerweile reichlich absurd an, wo es doch längst zum Allgemeingut zu gehören scheint, dass die Welt nicht so ist, wie sie in den Medien erscheint. Verdichtung, Konstruktion, Inszenierung, Selektion, Filterung - wir wissen darüber bescheid. Wir kennen zahllose Stereotypen, Erzählmuster, Ästhetiken und wissen, dass es sich gleichermaßen um Fiktionen handelt wie um Orientierungswissen für das Alltagsleben: Wir glauben nicht, was wir sehen, aber wir eignen es uns dennoch in der einen oder anderen Form an und verwerten es in unserem eigenen Leben. Wir kennen die Rolle des Fernsehens als Zensor, Filter, unglaubwürdiger Animator und gnadenlose Geldmaschine. Interessant bleibt, dass wir uns dabei dennoch unterhalten. Es ist und bleibt möglich, dass uns ProgrammentwicklerInnen "Reality-TV" präsentieren, als ob wir nicht längst wüssten, dass sie sich den Bindestrich schenken können, weil über die möglichen unterschiedlichen Bedeutungen der beiden Begriffe ohnehin nur MedienphilosophInnen Spekulationen anstellen können.

Wenn also Wirklichkeit ohnehin schon längst als mediale Inszenierung daherkommt und immer mehr MedienrezipientInnen darüber bescheid wissen, so erhebt sich dennoch die Frage, warum sich relativ neue Fernsehformate dennoch den Anschein von "Natürlichkeit" geben anstatt auf Inszenierung und Konstruktion zu setzen (obwohl natürlich die Ausgangslagen von Doku Soaps/Reality Soaps als massive Inszenierungen erkannt werden).

Werden wir gerne getäuscht? Bereitet es uns Vergnügen zu wissen, dass die ProduzentInnen wissen, dass wir wissen … aber es trotzdem genießen? Handelt es sich um eine tröstliche Vergewisserung über kollektive Banalität? Oder darüber, dass im Rahmen der Inszenierung doch nur wieder Normalität zum Vorschein kommt - obwohl gerade diese scheinbare Normalität, Authentizität und Banalität ("Aaalo!") die eigentliche Fiktion darstellt?

Es darf vermutet werden, dass keine Theorien über Zerstreuung, polyvalente Wirklichkeitsbezüge, Pluralisierung von Wirklichkeiten, über Mediatisierung, Entfremdung etc. zu brauchbaren Ergebnissen führen. Derartige Überlegungen beschreiben hinreichend den kulturellen Kontext, in dem sich solche Phänomene ereignen, ohne die Phänomene selbst in den Griff zu bekommen. Weil es sich eben schwer erklären lässt, wie etwas (trotzdem) funktioniert, obwohl es permanent durchschaut und entlarvt wird.

Jedenfalls scheint es sich bei den neuartigen, pluralistischen und temporalisierten Form der Steuerung und Synchronisation von Kultur durch Medienformate (aber auch Moden und Lifestyle-Angebote) nicht mehr primär um Repräsentationen zu drehen, nicht primär um visuelle Diskurse, um keinen exzessiven "pictorial turn". Es scheint sich vielmehr um Begehrensstrukturen zu drehen, um Befindlichkeiten im Rahmen konsumistischer "Spiele", um eine befremdliche wie lustvolle Komplizenschaft zwischen Medium und RezipientInnen, die sich sozusagen gegenseitig konsumieren. Diese Komplizenschaft, so lässt sich vermuten, hat also mit Konsumverhältnissen zu tun, mit Produkten, mit Produktmarketing, mit Waren, damit, dass etwa manche Automobile "besser" sind und sich teurer verkaufen lassen, weil die Marke ein entsprechendes Image aufgebaut hat (trotzdem die Testsieger immer die anderen sind). Eigentlich wissen es die KonsumentInnen - die immer auch wir selbst sind - besser.

In einem etwas älteren Aufsatz bezieht sich Irmela Schneider auf Veränderungen im Konsumverhalten und entwirft so etwas wie "narzisstischen" Konsum: Man konsumiert, um sich selbst etwas Gutes zu tun, um etwas zu erleben, was das eigene Befinden befriedigt. Es ist entscheidend, wie man sich fühlt, wenn etwas gekauft und konsumiert wird (auch wenn dieses Gefühl lediglich ziemlich undifferenziert mit dem Begriff "cool" beschrieben werden kann). Es scheint also ein paar Überlegungen zu Konsumkultur und ihrer Verschränkung mit Medien wert zu sein, um mehr über die aktuelle Struktur von Massenmedien, vor allem des Fernsehens, zu erfahren.

Beobachterverhältnisse

Gerade in Bezug auf diese Verschränkung ist der Zusammenhang zwischen Beobachterverhältnissen und Konsumkultur interessant. Wir erinnern uns an das Schaufenster als ehemaligen paradigmatischen "Rahmen" von gesellschaftlichen Verhältnissen, die das Begehren an Beobachterverhältnisse koppelten. Im Rahmen dieses Wechselspiels von Wahrnehmung, Erlebnis und Konsum spielt natürlich die Beobachtungsmöglichkeit von kulturellen Erscheinungsformen eine zentrale Rolle. Ich kann nur begehren, was ich einmal gesehen oder als Wahrnehmung imaginiert habe. Eine verführerische Idee wäre es jedenfalls, gegenwärtige Kultur als regressiv im Spiegellstadium verhaftet zu beschreiben, wie dies viele KulturpessimistInnen begrüßen würden. Es wäre in jedem Fall egal. Wie kürzlich in einer Reportage über die "Generation Golf" ein Interview bestätigte: "Konsumterror ist der totale Quatsch, Konsum macht einfach Spass", so könnte man paraphrasierend hinzufügen: Spiegelstadium hin oder her, Hauptsache es macht Spaß!

Es scheint mittlerweile einigermaßen irrelevant geworden zu sein, diese Beobachtungen, die man nur als kontingent bezeichnen kann, in eine zusammenhängende Erzählung zu bringen, die irgendeinen Sinn ergäbe oder irgendeine Ideologie markieren würde. Die Addition und Überlagerung verschiedenster Diskurse innerhalb ein und desselben Fernsehformats (etwas, das sich auch bei den Daily Soaps abzeichnet), hat zu einer Fragmentierung von Raum und Zeit geführt; Prozesse mit einem Anfang und einem Ende (der Täter wird gefasst) werden zu einer Akkumulation von aufgeladenen Augenblicken. Das belegen die Tagesrückblicke in Container und Kutscherhöfe: Gesprächsfetzen, markige Sprüche, flüchtige Gesten und Posen, montiert zu einer Art überlangem Videoclip, jede Sequenz ein Höhepunkt, als "decisive moment" inszeniert. Wir zoomen in einer oszillierenden Wahrnehmung zwischen (scheinbar) verdichteten und bedeutungsvollen Ausschnitten hin und her. Die Welt ist voller interessanter Details. Und die Menschen erst recht.

In ernsthafterer Terminologie hieße das: "Ein wichtiges Moment der Relation zwischen Medien und Kultur scheint darin zu liegen, dass in Medienverbundsystemen modernen Zuschnitts die Beobachtbarkeit von Kultur als Programm in einer Weise gesteigert wird, wie dies im Verlauf der bisherigen Geschichte noch nie der Fall war … Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme, die auf die Erfüllung bestimmter Funktionen hin orientiert sind, führt zur Entwicklung eigener Teilkulturen in den sich autonomisierenden sozialen Systemen. Während also die Kultur (...) zunehmend unbeobachtbar wird, ist jedes einzelne Detail innerhalb der Spezialkulturen in einem bisher unbekannten Maße beobachtbar geworden. Damit büßt aber das Kulturprogramm seine gesamtgesellschaftliche Reproduktions- und Kontrollfähigkeit partiell ein." (Siegfried Schmidt) Wenn also das Kulturprogramm seine Kontrollfähigkeit einbüßt, machen sich irrlichternde Geister auf die Suche nach Anhaltspunkten und finden sie beim stundenlangen Konsumieren von performativem Realitätsfernsehen? Kann es so einfach sein? Diesen Verdacht hatte jedenfalls die Presseabteilung von Warner Communications bereits in den siebziger Jahren: "Seit der exponentiell gesteigerten Verfügbarkeit aller Formen von Kommunikation mussten die ›Unterhaltungs‹-Medien dazu herhalten, dem Einzelnen Erfahrungsmodelle, Gelegenheiten zur Selbsterkenntnis sowie Elemente der Identität zu liefern."

Bisher allerdings wurden uns Erfahrungsmodelle und -gelegenheiten nicht wie im Schaufenster präsentiert, jede Einstellung eine Nahaufnahme (eine interessante Parallele übrigens zur Pornografie): JR Ewing hatte sozusagen noch gesellschaftsphilosophisches Profil; Zlatko ist nicht mehr als ein Marketingfaktor. TV-Formate wie Reality-TV erscheinen somit als elaborierte mediale Rückkehr des Schaufensters.

Theorie und Marketing sind eine Sache. Wie diese Dinge kulturell verarbeitet, implementiert und in Alltagszusammenhängen wirksam werden, eine andere. Um Medien wie Fensehen an so etwas wie Selbsterkenntnisprozesse koppeln zu können, müssen sie ja schon Teil jener Agglomeration sein, die man als eine Art Selbst empfindet. Und Miterleben kann ich nur, wenn ich etwas als im Rahmen meines individuellen Erfahrungshorizonts befindlich wahrnehme. Auch dabei geht es nicht um die Identifizierung von disparaten und widersprüchlichen Elementen einer symbiotischen Struktur: hier Fernsehen (böser Einfluss), dort Subjekt (guter Kern). Entscheidend ist nicht der Umstand, wo sich derartige Grenzen ziehen lassen, sondern der Umstand, wie etwas im Rahmen kultureller Wahrnehmungs- und Verwertungszusammenhänge funktioniert. Und diesbezüglich kann nur immer wieder betont werden: Wirklichkeit, kulturelle Wirklichkeit, ist nichts, das sich ereignet und bloß aufgezeichnet werden kann; es ist aber auch nichts, das sich unter laborartigen sozialen Bedingungen reproduzieren ließe. "Wirklichkeit" ist längst ein Zeichensystem, ein Informationsgehalt. Wirklichkeit funktioniert und hört als inszenierte nicht auf zu funktionieren, trotzdem ihre Konstruktionsbedingungen durchschaut werden. Etwas völlig Artifizielles funktioniert im Rahmen unseres individuellen (und auch kollektiven) Wahrnehmungshorizonts wie Wirklichkeit. Das erscheint faszinierend genug.

Marken, Konsum, Individuen

Weshalb aber dieser Drang nach Sichtbarmachung, danach, eine Gleichwertigkeit herzustellen zwischen dem, was man sieht, und dem, was man ist? Weshalb das Begehren nach Beobachtbarkeit? Warum soll alles mögliche, Banales wie Privates, überhaupt sichtbar werden? Geht es für die ZuseherInnen darum, die Medien zu einem Vehikel nicht nur der Selbstdarstellung, sondern, radikaler noch, zum Vehikel der Selbstproduktion zu machen? Handelt es sich dabei nicht um ein grundlegendes Missverständnis? Oder zeugt diese Strategie bereits von einem elaborierten Medienkonsum, der sich in eine komplizenhafte Form der Medienpraktik zu verwandeln beginnt?

"In der Welt der Medien existiert nichts auf Dauer, außer es ist eine Marke." (Bárci & Partner Young & Rubicam in einer Werbung mit dem treffenden Titel "Ich brande, also bin ich.") Was nun, wenn sich dieses (vor allem ökonomische) Funktionieren von Realität als Medienformat wie das "Funktionieren" einer Marke, einer Ware, beschreiben ließe (mit dem entsprechenden Ablaufdatum, das sich, wenn man die Reduktionen der Werbepreise bei RTL und Sat.1 berücksichtigt, bereits abzuzeichnen scheint)?

Stellen wir uns Konsumverhältnisse als Formen kultureller Repräsentation vor. Neben Waren beherrschen schon lange Dienstleistungen verschiedenste ökonomische Sektoren. Die gesamte Unterhaltungsindustrie lässt sich in dieser Form beschreiben, wenn die Ware durch Verhaltensmuster der KonsumentInnen überhaupt erst manifest wird. Unterhaltung als Produkt zu definieren heißt, Subjekte kulturell zu beschriften, zu kodieren, zu programmieren, damit sie in der Lage sind, bestimmte Repräsentations- und Handlungszusammenhänge als Unterhaltung identifizieren und entsprechend "genießen" zu können. Damit aber ist eine Warenform produziert, die kaum mehr etwas mit ihrer klassischen Form zu tun hat. Erlebnisse, individuelle Handlungszusammenhänge, haben den Charakter einer Ware angenommen. Insofern ist es gar kein absurder Schritt, die Handlungsträger selbst als eine Art Ware zu beschreiben. Konsumverhältnisse haben begonnen, das Subjekt in ökonomisch und konsumistisch definierte "Produkte" zu konvertieren. Wenn also "Reality TV/Doku Soaps/Reality Soaps" nicht primär bestimmte Inhalte produzieren, sondern ein ökonomisch definiertes Medienkonstrukt sind, dann handeln diese Formate sozusagen mit Authentizität, Banalität, Alltag, mit Wirklichkeitsformen als neuer, medialer Warenform. Sie handeln damit, indem sie Beobachtungsverhältnisse installieren, unter denen die ProtagonistInnen ihre Werbezeit erhalten, nicht um Sportschuhe zu verkaufen, sondern sich selbst. Fast liegt einem ein Begriff wie medialer Kannibalismus auf der Zunge.

"32 Kameras. 48 Mikrofone. 24 Stunden. 77 Tage. Live." Diese technische Konstellation zeugt nicht nur von Beobachtbarkeit, von Voyeurismus, vom Unterwerfen des Individuums unter Medienbedingungen, sondern zeugt darüber hinaus von einer radikalisierten medialen Produktionsmaschine, die diese Beobachtungen verwertet, und zwar sozio-kulturell wie ökonomisch. Die Bilder der 32 Kameras sind nicht einfach Bilder von etwas, über das man streiten könnte, inwiefern es noch mit Wirklichkeit zu tun hat oder nicht. Es sind Bilder, die die Umwandlung kultureller Repräsentationsverhältnisse in Konsumverhältnisse demonstrieren. Es sind Bilder einer großen Konsummaschine, die noch die tristesten und staubigsten Kleinode des Alltags, den kleinsten Abfall von Normalität und die geringsten Spuren Intimität in funkelnde, wertvolle und begehrenswerte Edelsteine zu verwandeln vermag.

Es zeichnet sich keine rechte Idee ab, was damit bewiesen wäre oder was es letztlich zu beweisen gäbe, außer dass, wie es Jeremy Rifkin ausgedrückt hat, es wahrscheinlich wird, dass wir eines Tages aufwachen - wie er es etwas melodramatisch formuliert - und wir feststellen, "dass praktisch jede Beziehung außerhalb der Familie eine bezahlte Erfahrung ist". Wird uns das stören, wo doch Konsum einfach Spaß macht? Es bleibt die Vermutung, dass sich in der Einübung von Medienkompetenzen, selbst wenn sie derart drastisch an Konsumverhältnisse gekoppelt sind, Potenziale zur Dekonstruktion einiger Mythen bieten, die auf gar keinen Fall einer Rettung wert sind. Möglicherweise gehört so etwas wie Wirklichkeit zu diesen Mythen.



© Reinhard Braun 2001

erschienen in:
springerin - Hefte zur Gegenwartskunst, Band VI, Heft 1/2001



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