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Texte


Reinhard Braun

Martin Osterider
Selbstreflexive Bilder, fotografische Räume


"Die Fotografie gibt es nicht. Sie besitzt keine Identität, keine Eigenart, keine spezifische Bedeutung unabhängig von derjenigen, die ihr in den kulturellen, gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten ihrer vielfältigen Einsätze zugewiesen wird." (1) Wenn heute über die Rolle von Fotografie im Rahmen aktueller künstlerischer Praktiken debattiert wird, dann erscheint diese weniger als bestimmte ästhetische Formationen von Interessen, und wird zumeist nicht primär in ihrem ambivalenten Verhältnis zu Wirklichkeitsbeschreibungen thematisiert (der "instrumentelle Realismus", wie es Allan Sekula (2) bezeichnet), sondern vor allem als spezifische kulturelle Praktik.

Fotografie wird dabei als Schauplatz von Repräsentationsverhältnissen adressiert, in deren Rahmen ein spezifischer Diskurs um das Visuelle geführt wird, als gesellschaftliches Signifikationssystem, als generalisiertes Kommunikationsmedium, das sich quer durch Kunst, Wissenschaft, Populärkultur, Medizin, Mode, Werbung etc. zieht und also gleichsam als ein Schauplatz fungiert, diese verschiedenen gesellschaftlichen Diskurse der Macht aufeinander zu beziehen, aufeinander zu projizieren. Fotografie ist eine Kulturtechnik, in der unter anderem Blickverhältnisse, die soziale Konstruktion der visuellen Erfahrung, die Technizität des Körpers, das Imaginäre, Wissen, Archiv und Erinnerung ineinander verschränkt sind. "Unser Verständnis von Schauplatz hat sich also von einem fixen, physischen Ort hin zu etwas verschoben, das durch soziale, ökonomische, kulturelle und politische Prozesse konstituiert wird". (3) Fotografie ist somit nach wie vor eine Bühne für Kontrolle und Überwachung, Klassifizierung und Domestizierung, doch zugleich Bühne für Selbstdarstellungen und soziale Inszenierungen, in denen das Private und das Öffentliche nicht nur kollidieren, sondern beständig neu formiert werden. Fotografie beschreibt nicht zuletzt ein grundsätzlich instrumentelles Verhältnis zu "Wirklichkeit", und ist bis heute ein exemplarisches Medium der technologischen Aneignung von Umwelt und deren Ressourcen, wie sie paradigmatisch in der Moderne verfügbar gemacht, systematisiert und perfektioniert wurden. Diese Verfügbarmachung lässt sich allerdings nicht mehr mit dem Begriff der Entfremdung beschreiben, sondern zeichnet sich gegenwärtig als ein zunehmend performativer Prozess ab, in dem Apparat und Subjekt sozusagen umeinander kreisen. Im besonderen Fall visueller Medien muss von einer zunehmenden "Ereignishaftigkeit des Sichtbaren" (4) gesprochen werden.

Der österreichische Künstler Martin Osterider hat sich in zahlreichen Projekten der letzten Jahre vor allem auf diesen kulturtechnischen Zusammenhang fotografischer Produktion und Bildzirkulation bezogen. In "VOTA-MEX-2000" (2000) nimmt Osterider Mexico City zur Zeit eines Wahlkampfes zum Anlass, die Wucherung visueller Informationen im urbanen Stadtraum zu thematisieren. Die repetitive Montage zahlloser Proträts der SpitzenkandidatInnen zeigt diesen urbanen Raum als zugleich modernen wie post-modernen: Die Logik der Serie verweist nach wie vor auf ein modernes Vertrauen in die Multiplizierung visueller Information, die die Portraits in Ikonen zu verwandeln versucht; gleichzeitig zeigt diese radikale visuelle Dramaturgie die Umarbeitung des urbanen Raumes in eine Folie für diese visuelle Kommunikation. Das Visuelle hat sich offfensichtlich wie ein Virus dem Urbanen, der Architektur eingeschrieben und hat diese infiziert. Das Bild wird zum Agens der Definition des Öffentlichen und bringt eine weitverbreitete Formulierung der Postmoderne auf den Punkt, dass nämlich nur kulturell (bzw. politisch) relevant wird, was sich der öffentlichen Zirkulation der Bilder einschreibt, Teil einer veröffentlichten Repräsentation wird. Die Serie von Martin Osterider erscheint zugleich wie eine Illustration des Althusserschen Ideologiebegriffs: Dieser fasste Ideologie als ein System von Repräsentationen auf, die über sogenannte "ideologische Staatsapparate" vermittelt werden. Diese Repräsentationen konstituieren die Subjekte und ihre Wirklichkeiten, weshalb sie sich nicht im Hinblick auf ein unverzerrtes Reales überprüfen lassen, sondern nur im Hinblick auf die Effekte der Repräsentationen selbst (5). In "VOTA-MEX-2000" dokumentiert Martin Osterider quasi einen spezifischen Effekt dieser ideologisierten Wirklichkeit: die Stadt als Bildträger, als Medium von Ideologie. Oder, wie es Theodor W. Adorno ausgedrückt hat: "Je vollständiger die Welt als Erscheinung, desto undurchdringlicher die Erscheinung als Ideologie." (6)

In "closed circuit" (2001) bezieht sich Martin Osterider schließlich direkt auf das Dispositiv Fotografie, wie es nicht nur den öffentlichen Raum überzieht, sondern nach wie vor ein zentrales Paradigma im Rahmen der Herstellung von Zusammenhängen zwischen Öffentlichkeit und privater Geschichtsschreibung, d. h. eine Form der Konstruktion von Identität und sozialem Kollektiv darstellt. In Japan entstanden nimmt die Installation großformatige Aufnahmen von fotografierenden Touristen (ein globales Phänomen und Klischee) zum Ausgangspunkt, und verwendet diese als Hintergrund für eine im Ausstellungsraum definierte Aufnahmesituation. Die BesucherInnen haben die Möglichkeit, eine von drei Polaroidkameras zu verwenden, deren jeweiliges Sichtfeld durch Markierungen am Boden angezeigt wird. Diese Markierungen definieren gleichzeitig den möglichen visuellen Raum, dem sich die BesucherInnen/FotografInnen überhaupt einschreiben können. Die Polaroids werden schließlich der Installation hinzugefügt und dokumentieren den inszenierten Kreislauf einer tautologisch aufeinanderprojizierten fotografischen Praktik. Insofern positioniert Osterider die Praktik des Fotografierens (im Ausstellungsraum) in einem immer schon fotografischen Raum. Die Vergewisserung einer Realität, in der sich das Individuum als identitäres erst performativ herstellen lässt, vollzieht sich als kollektive Bild-Praxis, als eine Einschreibung in einen kollektiven Prozess der Herstellung von Erinnerung als Bildarchiv, eines Prozesses, der Wirklichkeit zum Ausgangspunkt nimmt, diese zu konstruieren. Vielleicht besteht das ideologische Moment der Fotografie vor allem in diesem Prozess, der längst zu einer globalen kulturellen Praxis geworden ist: sich einem Horizont des Visuellen einzuschreiben, Fotografie nicht als Medium einer Aneignung, Aufzeichnung oder Verfügbarmachung von Realität zu verstehen, sondern als kollektive Praxis, einen verfügbaren Horizont von Wirklichkeit durch Fotografie überhaupt erst herzustellen. Die Installation von Martin Osterider legt es jedenfalls nahe, das Dispositiv der Fotografie im Hinblick auf diese kulturtechnische Relevanz zu lesen. Die Anordnung der Kameras, die die Großaufnahmen der Fotografierenden als Synonym für soziale Gruppen vollständig erfassen und in ihrem Sichtbereich fixiert haben, deuten auf die Unausweichlichkeit, von Repräsentation immer schon erfasst zu sein, immer schon visuell vermessen und Teil des "Bildschirms" zu sein, wie es Lacan bezeichnet hat. (7)

Und auch eine seit 2002 entstehende Serie wie "aufgestellt vor Ort" scheint einen geradezu gründerzeitlichen Topos aus der Fotografiegeschichte zum Ausgangspunkt zu nehmen, Kodaks Slogan "You press the button, we do the rest". Verschiedenste Automaten in Nahaufnahme ergeben zunächst eine Bestandsaufnahme spezifischer apparativer urbaner Skulpturen, bis hin zum "XXL-Automat (Parkhaus Tokio)" und zum Arrangement von Fast Food-Plastikbehältern. Selbstverständlich geht es in der Serie, die im Ausstellungszusammenhang als vielteiliges Tableau gezeigt wird, um eine Art visuelle, d. h. ästhetische Topologie von aparativen Alltagsobjekten. Damit geht es aber auch um einen sozialen Raum, der zunehmend um solche Apparate organisiert ist, der einer zunehmend technisch vermittelten Kommunikation unterliegt. Erscheint es zu weit hergeholt, in der Serie eine Art "synonymes Porträt" für das Fotografische als eines der paradigmatischen apparativen Systeme zu sehen? Zumindest zeigt sich in "aufgestellt vor Ort", dass "Artefakte für den Mediengebrauch und mediale Bezeichnungspraxen in einem engen Wechselverhältnis stehen". (8) Dieser Mediengebrauch bezieht sich in "aufgestellt vor Ort" nun nicht nur auf die Bildherstellung, sondern auch auf die Versorung mit verschiedensten Gebrauchs- und Verbrauchsgütern.

Die fotografische Praxis von Martin Osterider, wie sie hier nur skizziert werden kann, erscheint exemplarisch für künstlerische Verfahrensweisen mit Fotografie der letzten Jahre: Unter dem Eindruck der technologischen Veränderungen des Mediums wird das fotografische Bild nicht digital, es wird in einer Weise erneut selbstreflexiv und als Schnittmenge von gesellschaftlichen und politischen Praxen verstanden. Wenn es also die Fotografie nicht gibt, so gibt es jedenfalls nach wie vor eine Vielzahl kulturell relevanter fotografischer Verfahrensweisen.

Anmerkungen

(1) Susanne Holschbach, "Einleitung", in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Suhrkamp: Frankfurt/Main 2003, S. 7 – 21, S. 7.
(2) Allan Sekula, "Der Handel mit Fotografien", in: Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Suhrkamp: Frankfurt/Main 2002, S. 255 – 290, S. 258.
(3) Miwon Kwon, zit. nach: Claire Doherty, "New Institutionalism und die Ausstellung als Situation", in: Peter Pakesch, Adam Budak, Veronica Kaup-Hasler, Christine Peters (Hg.), Protections. Das ist keine Ausstellung, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2006, S. 61 – 75, S. 71.
(4) Philippe Dubois, "Plastizität und Film. Die Frage des Figuralen als Störzeichen", in: Oliver Fahle (Hg.), Störzeichen. Das Bild angesichts des Realen, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2003, S. 113 – 136, S. 126.
(5) Vgl. Luis Althusser, Ideologie und Ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg - Berlin: VSA 1977.
(6) Zit. nach: Stefan Münker, "Epilog zum Fernsehen", in: ders. (Hg.), Televisionen, Suhrkamp: Frankfurt/Main 1999, S. 220 – 236, S. 225; vgl. Theodor W. Adorno, "Prolog zum Fernsehen", in: ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1963.
(7) Vgl. Kaja Silverman, "Dem Blickregime begegnen", in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin: Edition ID-Archiv 1997, S. 41 – 64.
(8) Siegfried Zielinski, Audiovisionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte, Rowohlt: Reinbeck/Hamburg 1989, S. 227.



© Reinhard Braun 2006

erschienen in:
Camera Austria 96/2006



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