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Texte


Reinhard Braun

Medien, Bilder, Disziplinierungen.
Assoziative Interventionen in Arbeiten von Werner Kaligofsky


1992 drehte Claude Chabrol den Dokumentarfilm "L'oeil de Vichy" unter Verwendung von Propagandamaterial des Vichy-Regimes. Eine Sequenz dieses Filmes, entstanden 1940, zeigt eine Gruppe von Rekruten, die mit ihren Körpern die Wörter "Vive Pétain" bilden und anschliessend auseinanderlaufen. Dieses "Ornament der Masse" (Siegfried Kracauer) bezog sich allerdings gar nicht auf einen öffentlichen Raum und beinhaltete kein Ritual des Aufmarsches und Formierens, sondern war bereits ausschliesslich für die Kamera inszeniert. Die Disziplinierung der Massen erfolgte also spätestens seit den dreissiger Jahren nicht mehr ausschliesslich über eine Disziplinierung der Körper, sondern über eine Disziplinierung durch Bilder. Werner Kaligofsky nimmt in der Serie "o. T. (Aix-en-Provence 1940)" aus den Jahren 1995 - 2001, die durch eine Reihe von vom Fernsehbildschirm aufgenommen Videostills dieser Szene gebildet wird, auf diese Geschichte des Bildes als ein mediales Verhältnis zur Welt Bezug. Er übersetzt dabei Film als Fernsehen in eine fotografische Reihe, wodurch die Arbeit also quasi bildimmanent eine Geschichte der "Eroberung" der Welt durch Aufzeichnungstechniken repräsentiert und dabei paradoxerweise mit dem geschichtlich frühesten Medium "endet": der Fotografie. Die Allmacht des Blickes, wie sie sich in propagandistischen Allmachtfantasien der Beherrschung einer Gesellschaft kristallisiert, kondensiert auf einer Bildfläche, die den technischen Ausgangspunkt dieser Fantasie darstellt. Werner Kaligofsky "inszeniert" mit "o. T. (Aix-en-Provence 1940)" eine Logistik der Wahrnehmung, welche die medientechnische Verspiegelung der Welt thematisiert: Blickverhältnisse als Repräsentationsverhältnisse als Medienverhältnisse als Kontrollverhältnisse.

"Die Massenkultur kennt nicht das Authentische, sondern das Stereotyp und die Wiederholung. (...) Sie [die Kunst] wird vom Betrachter, der inzwischen schon seine eigene Wahrnehmung wahrnimmt, nur ernstgenommen, wenn sie ihn am Schauplatz der unvermeidlichen Medien in einer medial verspiegelten Welt empfängt. Wo wir kein Medium entdecken, durch dessen Brille wir sehen, fühlen wir uns hintergangen, weil wir schon nicht mehr glauben, noch unvermittelt wahrnehmen zu können", schreibt Hans Belting 1995. Diese medial verspiegelte Welt, deren Entstehung einstmals als eine massive und künstliche mediale Intervention in die Organisation von Wahrnehmung, Repräsentation, damit in die Organisation von Geschichte, Erfahrung und Wissen wahrgenommen wurde, bildet heute den Ausgangspunkt jedes Denkens über Medien und damit auch jedes Denkens über Fotografie. Hat sich also durch die unentwirrbare Vermischung von Repräsentation und Wirklichkeit jene wie aus einer fernen Mediengeschichte herüberreichende Form einer Disziplinierung durch Bilder sozusagen aufgelöst (oder zumindest entschärft), weil heute ohnehin niemand mehr an Medienbilder glaubt (und schon gar nicht an Fotografien), allerdings auch niemand mehr an eine Welt jenseits dieser Medienbilder? Oder hat sich dieses Moment der Disziplinierung und Kontrolle durch und über Bilder als eine quasi "natürliche" Funktion technischer Bilder derart in jedes Repräsentationsverhältnis eingeschrieben, dass es gar nicht mehr wahrgenommen werden kann? Ist es möglich, die Disziplinierung gleichzeitig mit dem Glauben an die technischen Bilder abzustreifen? Gibt es einen souveränen "Konsum" der Bilder?

Diese Argumentation gerät selbstverständlich zur (politischen) Farce, wenn Disziplinierung nur in Kategorien der Unterwerfung gedacht wird, wenn also jede Utopie der Implementierung von Medientechniken in gesellschaftliche Verhältnisse bei George Orwell endet. Aber wie verhält es sich mit Fragen der Disziplinierung (d. h. einer Formierung von regelhaften und normativen Formen sozialen Austauschs) im Falle der Beschreibung von gegenwärtigen Konsumverhältnissen? Sind nicht Bilder nach wie vor wesentlich an jenem Prozeß beteiligt, mit dem wir uns (unter anderem) unser Vergnügen vorschreiben (wenn man einmal nur an Werbung denkt)? Zu welchem komplizenhaften Verhältnis mit der Rhetorik von Bildern sind wir schliesslich gelangt, indem wir gegenwärtig geradezu unser eigenes Begehren konsumieren? Sind wir nicht in zahllosen (zugegebenermaßen ganz anderen) Formationen ständig Teil einer derartigen auf Bilder hin orientierten Masse im Moment der Auflösung und ihrer Rekonstruktion?

In "Lucy 1942" (1994) verwendet Werner Kaligofsky Einzelkader aus dem Vor- und Nachspann eines Filmes von Orson Welles ("The Magificent Ambersons", 1942), in dem im Nachspann die Produktionsmittel (Mikrofon, Projektor, Kamera, Mischpult usw.) stellvertretend für die sie bedienenden Personen gezeigt wurden. Wiederum vom Fernsehbildschirm abfotografiert wird die sechsteilige Foto-Serie zu einer visuellen Metapher dafür, wie quasi die Maschinen selbst den Film schreiben und produzieren, und letztenendes auch dafür, wie die Aufzeichnung von Geschichte, die Produktion von Sinn, jede Herstellung einer Erzählung auf die technische Apparatur übergegangen ist, der wir unser Gedächtnis anvertrauen, über die wir unsere Kommunikation herstellen und aus der wir unsere Informationen abrufen und über die wir Vergnügen und Lust gewinnen. Das Kino als große Erzählung über Wirklichkeiten und das Imaginäre erscheint in "Lucy 1942" auf eine Formation von Apparaten reduziert. Victor Burgin schreibt dazu 1994: "Phänomenologisch ist das allgegenwärtige spekuläre Feld der zeitgenössischen Medien fragmentarisch und heterogen (...). Mit ihren räumlichen und zeitlichen Verdichtungen und Verschiebungen (...) ähnelt diese imaginäre Umgebung zunehmend den inneren Räumen der nach außen gekehrten subjektiven Phantasie und ist in zunehmenden Maße strukturiert wie unsere Träume, unsere Phantasie oder sogar wie der 'Körper in Teilen' im halluzinatorischen psychischen Raum der Schizophrenie." Dieser Körper in Teilen erscheint in "Lucy 1942" als ein auf Medienprothesen verteilter Körper als Produzent des Filmes. Das Subjektive und das Mediale/Maschinische erscheint unter Medienverhältnissen also weniger als Gegensatz, denn als komplementäres Verhältnis von Aufzeichnung, Wiedergabe und Sehen.

Werner Kaligofsky re-präsentiert in das Medium der Fotografie übersetzt also offenbar verschiedene mediale Diskurse eines technisch-visuellen "Mapping" von Wirklichkeiten als gleichzeitiges Mapping von Wahrnehmung, Bewußtsein und damit von Gesellschaft überhaupt. Könnte man heute noch in aufklärerischen Begriffen denken, ließe sich dieses Unterfangen als ein punktuelles Sichtbarmachen von bestimmten Mediendispositiven beschreiben, vor allem deswegen, weil mit der Übersetzung von Film/Fernsehen in Fotografie eine massive Intervention in die jeweils zum Ausgangspunkt genommenen Medien stattfindet, eine Intervention, die grundsätzlich über die Zeitebene der Bilder greift und eingreift. "Die Gebundenheit der filmischen Zeit wird zugunsten der Dauer eines Fragments aufgehoben. Die suture (Naht) des Bildablaufs wird aufgetrennt, um die Aufmerksamkeit auf das Einzelbild und dessen Elemente, den 'stumpfen Sinn' (Roland Barthes) zu legen." (Werner Kaligofsky) Der stumpfe Sinn ist aber dasjenige, das nicht in der Sprache, nicht im Symbolischen und nicht im Sprechen aufzufinden ist. Der stumpfe Sinn ist der Signifikant ohne Signifikat - wie die bildliche Abwesenheit der Produzenten des Filmes bei Orson Welles.

Was heisst das aber für die Produktion von Bedeutung, von Sinn und Geschichte? Für seine Ausstellung in der Galerie im Taxispalais in Innsbruck in diesem Jahr hat Werner Kaligofsky eine ortsbezogene Arbeit realisiert ("Verkehrsflächen 2001", 2001): 8 Diaprojektionen zeigen diejenigen Straßen und Plätze in Innsbruck, die nach Gegnern und Opfern des Nationalsozialismus benannt sind. In Begleittexten zählt Kaligofsky nüchtern biografische Hintergründe, die Umstände der Verfolgung und Tötung sowie die "Geschichte" der Straßenbenennung durch den Innsbrucker Gemeinderat auf. Die meisten dieser Strassen befinden sich in Gewerbegebieten, eine davon hat nicht einmal eine postalische Adresse - die streng dokumentarischen Aufnahmen von unbedeutenden urbanen Situationen, die ihre Bedeutung sozusagen allein durch das Wissen um den konzeptuellen Ansatz der Serie entfalten, verdoppeln sozusagen diese in Österreich immer noch in fataler Weise umstrittene Geschichte einer Art permanent re-ideologisierter Repräsentationspolitik: Was darf überhaupt sichtbar werden (an Bildern wie an Bedeutung) aus jener Zeit des Nationalsozialismus in Österreich? Welche Rolle spielen die Opfer im Rahmen offizieller Repräsentationspolitiken? Wir kennen die Antworten nur zu gut. Auch diese noch immer halb verborgene Geschichte fungiert wie der stumpfe Sinn der Fotografie: sie ist nicht in der Sprache, nicht im Sprechen und auch nicht im Symbolischen, ein Signifikant, dessen Signifikat ständig zurückgedrängt wird.

An diesem Punkt lässt sich nochmals an Roland Barthes anschließen, wenn er schreibt, dass die Geschichte hysterisch ist: "Sie nimmt erst Gestalt an, wenn man sie betrachtet - um sie zu betrachten, muss man davon ausgeschlossen sein." Und welche mächtigere Maschine gibt es, uns von der Geschichte auszuschließen und sie zu betrachten, als die medientechnische Maschine - exemplarisch durch das Dispositiv des Films repräsentiert und konkret wiederkehrend in den "Verkehrsflächen"? Und weiter Roland Barthes: "Die Fotografie ist gewaltsam, nicht weil sie Gewalttaten zeigt, sondern weil sie bei jeder Betrachtung den Blick mit Gewalt ausfüllt und weil nichts in ihr sich verweigern noch sich umwandeln kann (...)."

Die Fotografie zeigt die Dinge an ihrem Ort, errichtet eine (offensichtliche) Ordnung der Dinge und damit eine Verfügung über Wirklichkeiten, in der sich nichts verweigern noch umwandeln kann (von der aber einiges ausgeschlossen werden kann), eine Verfügung, um Geschichte zu konstruieren und sich in diese einzuschreiben. Auch aus diesem Grund sind Bilder paradoxerweise ständig notwendig, weil sie Signifikate dort zu errichten imstande sind, wo sie, trotz aller Mediatisierung der Gesellschaft, noch immer (schmerzlich) fehlen. Dies alles scheint der Vermutung über eine Disziplinierung durch Bilder zu widersprechen. Was wäre, wenn sie aber gerade darin besteht, dieses seltsame Verhältnis zur Welt überhaupt erst einzunehmen? Was wäre, wenn sie darin besteht, sich selbst als Bild zu produzieren, um in dieses "geordnete" Verhältnis zur Welt zu treten (wenn also das "Es ist so gewesen!" sich endlich auf uns selbst bezieht)? Wir wissen seit langem um dieses paradoxe Verhältnis: das Auftreten meiner Selbst als eines Anderen, durch den ich selbst bezeichenbar werde, an den Instanzen des Sichtbaren teilhabe, gleichzeitig aber dadurch nur als Objekt zum Vorschein gebracht werden (der Tod durch die Fotografie).

Wir scheinen von den Arbeiten Werner Kaligofskys abzuschweifen. Doch vor einigen Jahren erwarb der Künstler in Frankreich ein Mappe mit in den 50er Jahren für den Schulgebrauch hergestellten Luftaufnahmen (eines Vulkans, einer Saline, eines Bauernhofes, einer Fabrik, eines Kraftwerks usw.) - eine Typologie der Moderne in ca. 50 Fotografien. Sie stellen zum einen ein typisches Beispiel für die mit der Luftfahrt und der Fotografie verknüpfte Registratur der Welt dar, wie sie im Zuge der technischen Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert vorangetrieben wurde. Sie stellen aber zum anderen auch ein typisches Beispiel für ein dadurch installiertes technisches Blickregime dar. (Wir begegnen erneut auf einer sehr oberflächlichen Ebene dem Phänomen der Ordnung des Sichtbaren mithilfe der Fotografie - warum sollte also die Vermutung nicht naheliegen, dass auch das eigene Unbewußte und Imaginäre in einer ähnlichen Form organisiert ist?) Diese Arbeit mit dem Titel "Reproduction interdite / Reproduktion verboten" (2001), der auf einen gleichlautenden Vermerk auf allen antiquarischen "Originalen" zurückgeht, verweist direkt auf den Umstand, dass jede Repräsentation einem entsprechendem Blickregime unterworfen ist, d. h. einer bestimmten Organisation von Sichtbarkeiten, einer Konstellation von Objekten im Hinblick darauf, welche Bedeutung sie als Bildelemente überhaupt in der Lage sind zu konstruieren. Das Blickregime als ein Bildrepertoire, das quasi alle verfügbaren Figuren der Herstellung von Bedeutung umfasst, formuliert den grundlegenden Umstand, dass (nicht nur) mediale Darstellungen die Gegenstände, den Körper und das Subjekt erfassen, einfassen, einrahmen, dieses sich nur über jene beschreiben und definieren kann, kurz gesagt: dass Darstellung immer bedeutet, dass die Körper einer visuellen - im spezifischen Fall: fotografischen - Prägung unterliegen. Und schliesslich werden wir "uns unserer eigenen Positionierung im Feld des Sichtbaren genau dann bewusst, wenn wir uns selbst in der Gestalt einer fantasmatischen Fotografie wahrnehmen." (Kaja Silverman) Und es wäre in jedem Fall verfehlt, diesen panoramatischen visuellen Zugriff auf "die Welt" nicht auf das Subjekt zu übertragen: "Der Körper selbst, befinde er sich nun vor oder hinter dem fotografischen Apparat, gerät in eine prothetische Beziehung mit diesem Apparat. Etwas wird dem Körper physikalisch hinzugefügt, eine technologische Supplementarität, die einen völlig neuen Körper hervorbringt, der von einer technologischen Hybridität zerrissen ist." (Douglas Fogle)

Und schliesslich erscheint es gar nicht abwegig, ausgehend von den sich auf mediale Dispositive beziehenden Arbeiten von Werner Kaligofsky, auf denen scheinbar nur Apparate, Maschinen, Orte und ornamentale Menschengruppen aufscheinen, sich vor allem auf das Subjekt zu beziehen, ist es doch nicht einmal durchgehend die große Leerstelle (quasi ein negatives "punctum") in seinen fotografischen Arbeiten: "Cléo 1961" (1994) umfasst 18 Einzelbilder (drei Sequenzen) aus einem Film von Agnés Varda (Cléo de cinq a sept, 1961), wiederum vom Fernsehbildschirm abfotografiert, und zeigt den angeschnittenen Kopf und Oberkörper einer Frau beim Herabsteigen einer Treppe. Die Fotoserie, als Tableau angeordnet, zeigt eine bestimmte Kaderfolge des Filmes in die sequentielle (und jetzt räumliche) Bildordnung der Fotografie übersetzt. Hier ist es allerdings geradezu exemplarisch das Subjekt, dessen Bewegungsabfolge nur mehr aus den Fotofragmenten rekonstruiert werden kann. "Es ist, als könnten wir im Reich der Technologie nicht mehr sagen, wo der Apparat aufhört und unser Körper beginnt. Der Körper selbst wird fotografisch. Er beginnt, auf seiner Oberfläche Zeichen auszusenden, die denen sehr ähnlich sind, die dem fotografischen [oder dem filmischen] Auge eingeschrieben werden." (Douglas Fogle)

Wird dieser Frauenkörper hier zur Fotografie oder ist er immer schon Fotografie? Wird sich dieses Subjekt seiner eigenen Identität nicht gerade dadurch bewußt, weil es in der Gestalt einer fantasmatischen Fotografie auftritt? Und wie müsste letztendlich unter der Voraussetzung einer derartigen Verschränkung von Subjekt und Bild die Geschichte einer Disziplinierung durch Bilder geschrieben werden, nachdem die Geschichte der Disziplinierung von Objekten (und Geschichten) durch Bilder bereits derart weit fortgeschritten ist?



© Reinhard Braun 2001

erschienen in:
Camera Austria 75/2001



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