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Texte


Reinhard Braun
Inter - Randzonen kultureller Topografien

Das Projekt "Inter -" der Werkstadt Graz bezieht sich in seiner Gesamtheit auf kulturelle Muster, auf kulturelle Codes, Übereinkünfte, Institutionen und Beziehungen. Diese mentalen, ästhetischen und psychischen Formationen durchziehen alle Gesellschaften, regeln ihr Wissen, ihre künstlerische Produktion, ihre Ethik usw. und stehen in komplexen Austauschverhältnissen zueinander. Die jeweilige Logik der Verknüpfungen oder Isolationen erzeugt eine spezifische Topografie, die jedoch nicht mit Kunst, Ethik, Wissenschaft usw. ident ist.

"Inter -" beschäftigt sich mit derartigen Topografien, die die Gesellschaft latent überziehen, bzw. mit deren Grenzbereichen, mit Rändern von solchen Topografien, die anhand von "unbedeutenden", marginalen Objekten, Orten und Situationen manifest werden. "Inter -" sucht diese sozusagen unterdeterminierten Objekte und Räume auf und definiert sie vorübergehend als "Inter-faces", als Schnittstellen, d. h. als durch einen "Kunstgriff" erst bedeutende Dinge, Handlungen und Orte.

Schnittstellen allerdings nicht zwischen den großen "sichtbaren" Modelle und Systemen von Gegenwart - Kunst, Politik, Tourismus, Wissenschaft etc. -, sondern von jenen latenten Topografien, d. h. von quasi sekundären Modellen und Mustern unterhalb dieses meta-sozialen kulturellen Geschehens: der Souvenirkult etwa, dieses weltweite Verschieben von Gegenständen, die zahllosen Projektionen ausgesetzt sind und Knotenpunkte von Erinnerungsfeldern, Fiktionen und Fokusse des Begehrens darstellen; das System des Souvenirs bedingt vollständige Umstrukturierungen von Regionen, Traditionen und Verhaltensmustern ( etwa die Airport Art) - das Souvenir repräsentiert komplexe Zusammenhänge zwischen Stereotypen, kollektivem Begehren, Erinnerungsmustern, Erlebnismöglichkeiten, d. h. es vermittelt selbst einen Querschnitt kultureller Muster und stellt eine nicht nur geografische sondern vor allem psychische Topografie dar, die alle Systeme und Ordnungen der Gesellschaft quert. "Inter -" betrachtet jetzt das Souvenir wie das Kunstwerk als gleichermaßen symptomatische Objekte bzw. Objektensembles, zwischen denen gewissermaßen ein Scharnier besteht. Dieses Scharnier, diese Grenzzonen zwischen Systemen der unterschiedlichsten Ordnung innerhalb der Kultur ist das Arbeitsfeld von "Inter -".

Im Feld der Kunst etwa findet dasselbe statt: im Vordergrund stehen jetzt nicht die künstlerischen Objekte selbst, das Begehren an ihnen, der Handel, dem sie ausgesetzt sind, die Formen ihres Präsentierens, die verschiedenen theoretischen Diskurse, die sie begleiten und/oder produzieren, sondern etwa die Schutzbestimmungen, die sich auf sie beziehen, die ihr Erhalten garantieren sollen und somit eine Grundlage ihres Andauerns bilden, die nirgendwo sichtbar wird, die aber einen international definierten und ratifizierten Kontext der Kunst (und der Kulturdenkmäler) bilden, ein sozusagen unterschwelliger, subliminaler Kontext, der allerdings ebenso ein Streiflicht auf eine Politik der Kunst, der Kulturgüter wirft, auf die rhethorischen Figuren, die den Entzug der Kunst aus der Gewalt legitimieren, auf die Argumentationen, die ihre Unverzichtbarkeit für die jeweilige kulturelle Identität eines Landes begründen usw.; der Kulturgüterschutz reflektiert eine kollektive Selbstdefinition ideeler Werte, ein Wertesystem, das sozusagen jenseits jeder irdischen Reichweite zur Ruhe gekommen ist und dort unbeschadet zu überdauern hat.

Das Entweichen aus den großen Kontexten, das Aufsuchen und Auffinden von "unsichtbaren" und damit unreflektierten Alltagsgegenständen, alltäglichen Gewohnheiten und Orten (die Fleischhauerei, die Parfümerie etc.) reagiert auf die Diskontinuierung der "großen Erzählungen", der Meta-Ebenen, auf die zunehmende Auftrennung der bisher als homogen und kontinuierlich gedachten Zusammenhänge und Ereignisse. Politik etwa ist kein Ensemble von Handlungen und Entscheidungen einer allein politischen Sphäre mehr, sondern ein Konglomerat von verstreuten Ursachen und ihren Konsequenzen - "Politik" selbst erscheint dabei nurmehr als Folie, als Ornament dieser sich zerstreuenden und entziehenden kausalen oder kontigenten Ereignisse und Intentionen, die selbst nicht mehr politisch sind, sondern sich von je unterschiedlichen Positionen und aus je unterschiedlichen Perspektiven auf ein "Politisches" richten. Diese ornamentale Folie definiert sich darüberhinaus fast vollständig aus Medien-Oberflächen (diese Verlagerung des Politischen ins Ornamentale dürfte mit ein Grund sein, warum sozusagen "individuelle", d. h. individualisierte Wahlkämpfe, buchstäbliche Ansprachen, kaum mehr dazu in der Lage sind, Prozentpunkte zu verschieben; diese Funktion ist längst an "gelungene" Plakatflächen oder Fernsehbilder übergegangen). Die Schnittstellen, für die sich das Projekt "Inter -" interessiert, verlaufen quer durch diese medialen Oberflächen, sie bilden dort eine Leerstelle, einen blinden Fleck, von dem aus sich die Kultur sozusagen selbst anblickt, den sie aber nicht vollständig zu definieren und auszufüllen vermag. Solche Leerstellen werden aber auch von Objekten jenseits medialer Systeme repräsentiert, Objekte, die quasi zwischen den Handlungen liegen, nicht vollständig davon erfaßt und doch keine bedeutungslosen Dinge. Sie haben ihren Platz in diversen Ritualen, ohne sie zeichenhaft zu repräsentieren. Sie liegen am Rande der Bedeutungen, noch jenseits musealer Strategien oder fetischisierender Begierden: Dinge, die noch einen achtlosen Gebrauch ermöglichen, die es gerade noch verhindern, daß der Alltag ein lückenlos designter und stilisierter Handlungsraum wird. Diese Gegenstände, die sich quasi von uns zurückziehen, bilden ein Äquivalent zu den Leerstellen, die sich durch die Medien ziehen, die Bilder und Sätze "ohne" Bedeutung, die eine Unterbrechung innerhalb der Information und Kommunikation ermöglichen, die das Subjekt einen Augenblick lang aus den Fängen der Information entlassen, die alle jedoch nicht ohne Gestalt und Gestaltung sind. Die Zwischenräume, das "Inter -" ist nicht ohne Form und Sinn, es hält ihn aber sozusagen auf Distanz zu unserer Wahrnehmung.

Dieses Phänomen, daß die großen gesellschaftlichen Mechanismen in einem komplizierten und komplexen Verhältnis zu Oberflächen stehen, auf denen sie erscheinen, durch die sie (scheinbar) repräsentiert werden oder sich sogar darauf ereignen (sollen), zieht es nach sich, daß auch die Strategien einer Kritik, einer Analyse oder "Enttarnung" solcher Mechanismen mit/auf diesen Oberflächen operieren müssen (daran erscheint etwa wiederum ein Problem der politischen Opposition: es läßt sich nicht mehr ohne weiteres ein wahrer Diskurs - Ökologie - neben einen "falschen" - Industrialisierung - stellen in der Hoffnung, die Differenz, d. h. die Wahrheit selbst müsse den falschen Diskurs enttarnen und diffamieren; jeder "wahre" Diskurs muß erst auf bestimmten Öberflächen inszeniert werden, an Orten, die zum Gegenstand einer buchstäblichen "Aufnahme" werden um somit überhaupt erst ein Element des Politischen werden zu können). Es sind also nicht die Dinge selbst, die Strukturen selbst - Politik, Wirtschaft oder Kunst -, die sich ereignen, sondern komplexe Spiegelungen, Affirmationen der unterschiedlichsten Kontexte und Handlungsfelder, die ein solches "Ding" erst produzieren (der Aktienkurs etwa ist ebenso abhängig von Gerüchten wie von der tatsächlichen Bilanz eines Unternehmens): es sind also nicht allein die zentralen Schnittpunkte innerhalb eines Systems - etwa der Ökonomie -, die das System abbilden, erklären oder determinieren, sondern es sind die Schnittstellen zu, die Überschneidungen mit ganz anderen Systemen, die jenes nicht nur tangieren, beeinflussen, sondern es mitunter lenken und falten, es vorantreiben oder zum Stillstand bringen: der unbesetzte Ort, um den herum sich die Systeme organisieren. Diese unbesetzten Orte lokalisieren sich oftmals in den angesprochenen Topografien, die quer zu kulturellen Ordnungen verlaufen: das Andenken als Fixpunkt der Erinnerung, der Ehrenpreis (wie im Fall des Projekts "Österreich-Bild") als Beschreibung von Wertsystemen und -hierarchien, die Schwesternstadt als Symptom einer Positionierung der urbanen Identität, das Depot als Referenz für eine Kultur der Erinnerung und Bewahrung - Schnittstellen zwischen Gegenwart und kulturellem "Off", zwischen Austausch und Isolationismus, zwischen Auszeichnung und Aneignung, Präsentationslust und Scham.

Die Medien selbst sind eine solche Schnittstelle, die sich trotz ihrer permanenten Präsenz paradoxerweise zurückzieht: sie liefern jede Menge Bilder, Erzählungen, Statements, Werbungen, Forderungen, Fiktionen, Dokumentationen etc. hinter denen sie selbst praktisch verschwinden: es geht längst nicht mehr um die Form, wie uns die Medien Unterhaltung, Information etc. präsentieren, sondern nurmehr um die Art dieser Unterhaltung und Information, d. h. die Form, die der Gegenstand der Übertragung selbst darzustellen scheint. Der Bildschirm ist längst nicht mehr das Fenster zu einer Welt (jenseits des Bildschirms), er ist die Repräsentation der Welt selbst geworden. Es geht also nicht mehr um die Modi der Repräsentation, die Ereignisse sind mit diesen Modi bereits ident geworden (wie sie ja auch buchstäblich für die "Aufnahme" durch die Medien organisiert werden). Aus diesem Grund sind die "schlechten" Bilder, die Bilder, die der Konditionierung durch die Standards der Modalitäten der Erfassung und Verbreitung vielleicht auch nur teilweise entgangen sind, von Interesse: an ihnen wird die Leerstelle sozusagen kurzzeitig sichtbar, an ihnen erscheint wie nebenbei das Medium ALS Medium, d. h. es wird sichtbar, daß da etwas erfaßt wird, von einer anderen Ordnung als es selbst umgeformt und zu etwas anderem, das seinen Weg in die mediale Verbreitung findet. Solche Leerstellen kennzeichnen den Riß, der in jeder Kette der Repräsentation entsteht, den Riß, der zwischen den Ordnungen bestehen bleibt, auch wenn die Bilder und Töne bereits zu einer Natur der Dinge und Ereignisse selbst geworden zu sein scheinen.

Analog dazu bilden manche Gegenstände einen Riß innerhalb von Systemen, an dem eine Intention zum erliegen kommt und eine andere sich des Dings erst annehmen muß: zahllose Gegenstände repräsentieren eine derartige Leerstelle innerhalb der gegenwärtigen Kultur; ihre Aneignung kann nur aufrecht erhalten werden, wenn ein anderes System die Objekte integriert: das Museum etwa. "Inter -" versucht allerdings, die Dinge vor ihrem Übertritt aufzuspüren, sie an ihrer Grenze zu markieren, die nicht jene zur Musealisierung sein muß, sondern lediglich zu einem anderen Kontext, in den hinein das Ding beständig oszilliert (man durchsuche nur die verschiedensten Prospekte und Werbesendungen nach den Strategien, mit denen Gebrauchs- oder Luxusgegenstände, Gewohnheiten oder Abneigungen, die längst in den Alltag integriert worden sind, zu etwas neuem, anderen und damit: erneut begehrenswertem umfunktioniert werden; es handelt sich um den ständigen Versuch, neue Kontexte zu schaffen bzw. alte zu beseitigen, Gegenstände wie Verhaltensformen in neue Nachbarschaften zu bringen und dabei immer wieder den Rand eines Diskurses zu einem Zentrum umzuformen, das Oszillieren der Dinge zu benutzen oder herbeizuführen - in der Werbung durchqueren die Gegenstände oftmals radikal ein ganzes System um ganz woanders wieder aufzutauchen).

Das "Inter -", das Objekt im "Inter -", erscheint demnach nicht nur als ein intellektuelles Spiel oder Produkt, sondern als ein (potentielles) radikales Gelenk, das ein ganzes System kurzzeitig zu bewegen oder zu durchqueren imstande ist. Die Zwischenräume, die ein derartiges System, eine große Erzählung, nicht besetzt - fataler Weise nicht besetzt -, werden zu Nischen für allerlei virale Produktionen ANDERER Systeme und Erzählungen. Es ist das buchstäbliche Taschentuch, das den Liebhaber schließlich verrät und seine Erzählung von der Liebe radikal beendet. Das Projekt "Inter -" versucht, ein solches virales System zu bilden, Besetzungen (auch nur kurzfristig) zu installieren, die eine Transfersituation zwischen diversen Ordnungen erlauben bzw. einführen (und insofern ein wenig der Werbung folgt).

Ein Projekt wie "Handkerchief" etwa bezeichnet exakt diese Strategie der Besetzung einer Leerstelle, einer System-Nische; es artikuliert nicht mehr eine aufklärerische Position, die die Notwendigkeit einer künstlerischen Gestaltung des Alltags postuliert, sondern injiziiert quasi ein marginales Kunst-Objekt, eine marginale Kunst-Oberfläche in ein Feld, das Kunst "als Kunst" nicht negiert, aber aufgrund radikaler struktureller Differenzen nicht zu integrieren in der Lage ist, und wenn, dann als buchstäbliches Ornament, als buchstäbliche Oberfläche, die die Differenz nicht aufhebt, sondern lediglich tarnt und ästhetisch überblendet. "Handkerchief" produziert keine "objets trouvés", die über den Umweg einer Neudefinition zur Kunst werden und von dort den Weg in andere Kontexte antreten, sondern plaziert "objets artistiques", die jetzt nicht einen Ort als Ort für Kunst definieren, sondern die lediglich das bleiben, was sie sind: künstlerische Objekte in einem nicht-künstlerischen Feld. Der Anspruch an den Kontext wie an das Objekt, induktiv wie deduktiv Situationen zu definieren, wird aufgegeben. Lediglich die Nische, die Leerstelle wird annektiert und zu einem temporären wie inhaltlich begrenzten ANDEREN Ort, dessen Territorium sozusagen beschränkt bleibt - keine Expansion der Kunst, sondern eine Kunst der (disloziierten) Plazierung.

Diese Disloziierung, die sich durch das gesamte Projekt "Inter -" zieht, hat einen Wechsel des Terrains zur Folge, auf dem nach Symptomen für kulturelle Muster - die angesprochenen Topografien, d. h. Strukturen, die gegenüber ihren Systemen erster Ordnung etwas verschoben sind - gesucht wird. Es ist nicht der direkte Blick auf die Szene - das Museum, die Galerie, das Hotel, der Bahnhof, nicht die präzise Fokusierung eines Ereignisses, nicht die Frontale, die das Projekt vermitteln möchte, sondern sozusagen den Blick von der Seite, der eine andere Logik voraussetzt, der aber auch eine andere Logik zu entziffern in der Lage ist. "Das Detail eines Bildes, das, "von vorne" gesehen, d. h. von einem exakt frontalen Blickpunkt aus, als verschwommener Fleck erscheint, nimmt klar unterscheidbare Formen an, wenn wir es von der Seite her, "schräg" betrachten." (Slavoj Zizek) Das bedeutet in gewissem Sinn, den nüchternen, direkten und sachlichen Blick auf die Dinge aufzugeben (der nichts sonderbares entdeckt und dem die Sache als die Sache selbst erscheint) und stattdessen einer Verschiebung in der Wahrnehmung zu folgen, einer Verschiebung, die gewissermaßen dem Begehren an den Dingen entspricht. Das Symptom, das sich zeigt, die Leerstelle, die plötzlich erscheint, mag so allein dieser Verschiebung entsprechen, von dieser Verrückung und Entsetzung des Blickes und der Perspektive herrühren, d. h. eine pure Produktion dessen sein, das erkennt, "ein Objekt, das in gewisser Hinsicht vom Begehren selbst postuliert wird" (Slavoj Zizek) und jenseits dieser Entstellung "an sich" nicht existiert. Möglicherweise ist es dennoch dieser verrückte Blick, der schließlich Differenzen ausmacht, nicht im Sinn eines Irrationalen in und zwischen den Dingen, aber im Sinn einer aufscheinenden Inkongruenz zwischen Ding und Bedeutung, zwischen Intention und Konsequenz eines Ereignisses, einer Handlung, der also entgegen einer linearen Verknüpfung von Erscheinungen die Diskontinuitäten in den Mittelpunkt rückt. Wenn allerdings "die Tatsachen nicht existieren" (Paul Veyne), braucht sich dieser Blick ohnehin nicht zu rechtfertigen. Weit davon entfernt, eine Theorie oder gar eine Kulturkritik zu postulieren, stellt das Projekt "Inter -" geradezu buchstäblich eine Expedition dar in institutionelle, architektonische und urbane Zwischenräume und Transitbereiche dar: kein Spiel mit beliebiger Signifikation und Interpretation, aber eine Operation, die diese Zwischenräume in Räume eines konstruktiven Austauschs überführen möchte - eine Besiedelung der Leerstellen, die zuerst etwas entdecken muß in diesem Niemandsland. Die Operation dieser Entdeckung ist die Verrückung der Perspektive, der "schräge Blick" auf die Dinge.



© Reinhard Braun 1993

erschienen in:
"Inter _", Werkstadt Graz, Graz 1993



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