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Texte


Reinhard Braun
It's only TV, isn't it?

Über 3 Millionen wollen täglich dabeisein, wenn Herzen sich finden und andere zerbrechen. Sie wollen wissen, ob Krisen und Schicksalsschläge gemeistert werden können, ob Freude und Freundschaft andauern. Warum? Es gibt Dinge, die sind überall und immer gleich. Die Liebe gehört dazu.
Aus einem Pressetext zur deutschen Daily Soap "Verbotene Liebe"

Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. (...) Die Frage lautet also nicht, was ist der Fall, was umgibt uns als Welt und als Gesellschaft. Sie lautet vielmehr: wie ist es möglich, Informationen über die Welt und über die Gesellschaft als Informationen über die Realität zu akzeptieren, wenn man weiss, wie sie produziert werden.
Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien

Es handelt sich doch nur um Fernsehen.
Publikumsmeldung, prima leben und sparen, Forum Stadtprak, 16. September 2000

Wie könnte man anders als von einem komplizenhaften Verhältnis zwischen RezipientInnen und dem Fernsehen sprechen, wo sich doch täglich Millionen ZuseherInnen in fiktionale Rekonstruk-tionen von Realitäten einklinken, diese als solche zu identifizieren in der Lage und doch gleichzeitig dazu bereit sind, sie als Erzählungen über Wirklichkeiten zu decodieren? Aber über welchen Form von Wirklichkeit sprechen wir? Und haben Vorstellungen von Authentizität überhaupt noch etwas mit Wirklichkeiten zu tun?

Egal, welche Erzählungen konstruiert werden, welche "Inhalte" inszeniert, bearbeitet oder vermittelt werden - Fernsehen besitzt als Massenmedium, als Form struktureller Koppelungen von kulturellen Gruppen und Individuen soziale und kulturelle Relevanz, synchronisiert Vorstellungen, Werte, Normen, Identifikationsmuster und ähnliches mehr. Fernsehen ist selbst dann präsent, wenn alle Fernseher abgeschaltet sind, wie das schlechte Gewissen, Religion und Übergewicht. Insofern wirken sich Massenmedien als Komponenten moderner Gesellschaften folgenreich aus auf die Selektion, Thematisierung und Gewichtung kulturellen Wissens aus. (Siegfried J. Schmidt) In zunehmendem Maße erhalten nur jene "Sachverhalte" den Status von "Sachverhalten", wenn sie über mediale Kanäle produziert, reproduziert und in Umlauf gebracht werden können. Individuelle Kommunikation, persönliche Erfahrung hat den Vorteil, "real" zu sein, allerdings den Nachteil, sich nicht ohne weiteres in Medienkreisläufe einschleusen zu lassen. Lässt sich reale Erfahrung nicht durch mediale Info-Diskurse gegenchecken, verliert sie sich in sozialem Rauschen jenseits der Bildschirme und hat folglich kaum mehr die Möglichkeit, sich in kulturelle Repräsenations-mechanismen einzuklinken, die fast vollständig von Mediensystemen absorbiert worden sind.

Es scheint somit nur mehr Chancen auf Wirklichkeitserfahrung zu besitzen, was zu einem Teil der umfassenden medialen "Sight Machine" (Critical At Ensemble) geworden ist. Im Zuge dieser Mediatisierung von Wirklichkeitskonstruktionen lässt sich somit auch Authentizität nur mehr in Kategorien von medialer Repräsentation denken. Angesichts dieser Umstände darf es nicht überraschen, wenn gerade Reality TV, Reality Soaps, Daily Talks und Daily Soaps als große Subjektivierungs- und Authentizitätsmaschine bezeichnet werden müssen. Denn woher sonst hätten wir all die Vorstellungen darüber, entlang welcher Parameter wir uns entwerfen, stilisieren, inszenieren oder entfremden sollten?

"Ein wichtiges Moment der Relation zwischen Medien und Kultur scheint darin zu liegen, dass in Medienverbundsystemen modernen Zuschnitts die Beobachtbarkeit von Kultur als Programm in einer Weise gesteigert wird, wie dies im Verlauf der bisherigen Geschichte noch nie der Fall war. (...) Während also die Kultur einer sich funktional ausdifferen-zierenden Gesellschaft als Ganze zunehmend unbeobachtbar wird, ist jedes einzelne Detail innerhalb der Spezialkulturen in einem bisher unbekannten Maße beobachtbar geworden. Damit büßt aber das Kulturprogramm seine gesamtgesellschaftliche Reproduktions- und Kontrollfähigkeit partiell ein. (...) Medien beeinflussen die Entfaltung von Öffentlichkeit, und zwar in erster Linie über eine Veränderung der Beobachter-verhältnisse in der Öfentlichkeit. (...)"
Siegfried J. Schmidt, Medien=Kultur?

Weshalb aber dieser Drang nach Sichtbarmachung, danach, eine Gleichwertigkeit herzustellen zwischen dem, was man sieht, und dem, was man ist? Weshalb das Begehren nach Beobachtbarkeit? Warum soll alles mögliche, Banales wie Privates, überhaupt sichtbar werden? Nicht nur, dass Fernsehanstalten um die Produktion von Wirklichkeit wetteifern, tausende SeherInnen schicken ihre Urlaubsvideos ein, bewerben sich bei Reality Talks und wetteifern darum, in Flirtshows das Objekt der Begierde zu werden - für die zweite "Staffel" von "Big Brother" soll es an die sechzigtausend Bewerbungen gegeben haben. Das Artifizielle der Medienmaschinerie hat es jetzt plötzlich auf das Gewöhnliche und nicht mehr auf das Seltene und Sensationelle abgesehen. Geht es für die ZuseherInnen darum, die Medien zu einem Vehikel nicht nur der Selbst-darstellung, sondern, radikaler noch, zum Vehikel der Selbstproduktion zu machen? Handelt es sich dabei nicht um ein grundlegendes Missverständnis? Oder zeugt diese Strategie bereits von komplexem, elaboriertem Medienkonsum, der sich in eine komplizenhafte Form der Medienpraktik zu verwandeln beginnt?

Der Optimismus scheint unbegründet. Auch wenn viel von Diversifizierung der Kulturen die Rede ist, von einer Aus-differenzierung in zahllose Teil- und Subkulturen und dergleichen - alle diese gesellschaft-lichen Teilgruppen bleiben in je spezifischer Form dennoch rückgebunden an die großen Medienerzählungen, die die wesentliche Folie für die Ausdifferenzierung und Abgrenzung überhaupt erst herstellen. Und seien wir uns ehrlich: alle diese Subkulturen sind Zielgruppen und werden marketingtechnisch definiert und adressiert.

Gehen wir also davon aus, dass es zunächst nicht darum geht, das Reale, Wirklichkeit, darzustellen, sondern diese zu bedeuten. Wir kennen das aus dem Spielfilm: Unschärfe, wackelige Kamera, schlechter Bildausschnitt werden semantisch als "direkte" Bilder decodiert, als Zeichensystem, das einen (scheinbaren) ungefilterten Blick auf tatsächliche Verhältnisse repräsentiert (und damit simuliert). Dieses Zeichensystem funktioniert allerdings in dieser Form gerade nur in visuellen Kontexten, die grundsätzlich anderen syntaktischen und syntagmatischen Ordnungen gehorchen. Mit anderen Worten: Wirklichkeit ist eine Form ästhetischer Differenz geworden. Und diese Differenz wird systemintern produziert: Wirklichkeit hat sich als Medienprodukt etabliert und wird auch als solches konsumiert, interpretiert und archiviert.
Wenn man diesen radikalen Einschnitt in Repräsentationsverhältnisse unterstellt (die Veränderung der Beobachterverhältnisse in der Öffentlichkeit), und sich gleichzeitig vergegenwärtigt, dass Massenmedien in erster Linie Geldmaschinen sind, noch bevor sie Kontroll- und Disziplinierungsmaschinen sind, dann müssen wir nicht so sehr von den technischen, ästhetischen oder semantischen Modalitäten sprechen, über die diese Fiktion der medialen Inszenierung von Wirklichkeit funktioniert, sondern sollten einen Blick auf grundlegende Mechanismen von Kunsumkultur werfen, an die die Medienmaschine eng gekoppelt ist. Denn schliesslich haben Fernsehsender etwas zu verkaufen: Reich-weiten, Zielpublikum, Konsumentenkontakte.

Stellen wir uns Konsumverhältnisse als Formen kultureller Repräsentation vor. Neben Waren beherrschen schon lange Dienstleistungen verschiedeste ökonomische Sektoren. Die gesamte Unterhaltungsindustrie lässt sich in dieser Form beschreiben, in der die Ware quasi durch Verhaltensmuster der KonsumentInnen überhaupt erst manifest wird. In enger Koppelung mit dieser Entwicklung wurde kulturelles Verhalten längst zu einer zentralen Schnittstellen nicht nur für die Präsentation und Repräsentation des Individuums als kulturelles Subjekt, sondern auch für dessen Implementierung und Integration in Konsumverhältnisse. Unterhaltung als Produkt zu definieren heisst, Subjekte kulturell zu beschriften, zu codieren, zu programmieren (d. h. bestimmte Repräsentations- und Handlungszusammenhänge als Unterhaltung identifizieren und entsprechend "genießen zu können). Aber auch Körperkultur, Mode und technische Gadgets bilden ein semantisches Amalgam in diesem konsumistischen "Spiel", die ein entsprechendes öffentliches Subjekt produziert; all die Lifestyle-Elemente verschränken sich quasi zu einer Oberfläche für die Produktion eines öffentlichen Bildes von uns selbst, dessen Funktion es ist, kulturell zu zirkulieren, zu kommunizieren, die erwünschten Anschlusskommunikationen herzustellen (sprich: permanent als KonsumentIn adressierbar zu bleiben). Insofern ist es kein drastischer Schritt mehr zur Definition dieses Subjekts selbst als Ware, als image. Kunsumverhältnisse konvertieren das Subjekt in ökonomisch und konsumistisch definierte "Produkte" (auch, wenn die Gegenwerte nicht pekuniäre bewertet werden - die funktionalen Strukturen sind die selben).

Wenn also "Reality TV" nicht primär bestimmte Inhalte produziert, sondern ein ökonomisch definiertes Medienkosnstrukt ist, dann handelt es sozusagen mit Authentizität als neuer, medialer Warenform. Die Ideologie dieses Sendformats wäre dann eine rein ökonomische, die darauf abzielt, alles und jedes in eine Warenform zu verwandeln, verkaufbar und vor allem konsumierbar zu machen. Es geht also im Grunde vielleicht gar nicht um Realität, und wenn, dann um ihrer Verwandlung in eine konsumierbare Ware - nicht in einen konsensuellen Wirklichkeitshorizont von Werten und Normen, denn: jede Norm schränkt immer auch ein, definiert bestimmte kulturelle Erscheinungsformen und Rituale außerhalb von Konsumzusammenhängen. Diejenige Wirklichkeit, die als Ideologie hinter Reality TV vermutet werden darf, bündelt sich im Ausspruch: Anything goes! Alles ist möglich! Wie im Lotto existieren in der Wirklichkeit, wie sie Fernsehformate entwerfen, keine sozialen Schranken, die verhindern würden, vom Fernsehen erfasst oder vom Konsum ausgeschlossen zu werden. Und wenn Authen-tizität, die "authentische Darstellung" von Individuen in verschiedenen variablen, wiederum konstruierten sozialen Zusammen-hängen, erst einmal eine Ware geworden ist, dann werden die Eigenschaften dieser Individuen, die ihre Authentizität performen, quasi zu Markeninformationen, zu Brandingelementen eines Labels: Seht her, ich habe das Zeug zum Star!

Egal, ob in Containerwohnungen oder einem Taxi: all die Personen agieren vor und für die Kamera, in ständigem Bewußtsein davon, re-repräsentiert zu werden und also eigentlich Bilder zu produzieren. Alles was an vermeintlich Privatem in Öffentliches konvertiert wird, setzt sich schon im Hinblick auf ein Sendeformat ins Bild, setzt immer schon mediale Beobachterverhältnisse voraus (schließlich kann ich nur konsumieren, was ich sehen kann). Wie ein technischer Apparat produzieren diese Personen Bilder, die wieder nur andere Bilder repräsentieren, die anhand von Medienbildern gewonnen und entwickelt worden sind. Waren wie Medienangebote beinhalten immer schon bestimmte Subjektentwürfe bzw. deren Repräsentatiosformen in kulturellen Diskursen. Ein geradezu makelloser, sytemimanenter Zirkel zwischen Repräsentations-verhält-nissen nimmt seinen Lauf. Auch in diesem Sinn herrschen komplizenhafte Verhältnisse.

Auch, wenn sich Reality Shows vom Format und von der Bildästhetik her von klasischen Serials und deren konstruierten Handlungen absetzen, herrscht im Grunde auch in ihnen die unumschränkte Disneyfizierung von Kultur vor. Von der Unterhaltung als Ware ist es nur ein kleiner Schritt zur "Realität", "Authentizität" und "Intimität" als Ware. (Wir beginnen, das Genießen anderer zu konsumieren, wie es auch in der Pornografie der Fall ist: die Inszenierung des Genießens der Frau in der sexuellen Befriedungung des Mannes.) Die Frage, die sich die ProtagonistInnen von Reality Shows im Grunde stellen sollten lautet: Wie muss ich erscheine, um als Ware zu funktionieren, um konsumierbar zu werden und als vernetzbares Image zurkulieren zu können? Die Typologie der KanditatInnen in diversen Serien, Shows und Talks funktioniert dann auch analog zum Buttersortiment im Kühlregal: etas mehr Salz, etwas weniger Fett, verschiedene Verpackungen, für jeden etwas! Reality TY als Dauerwerbesendung, in der jeder mal seine Sendezeit hat, um sich anzupreisen - denn schliesslich entscheidet oftmals das Publikum darüber, wer gewinnt, und wer verliert. Intimität als Ware, das Ich als Marktchance. Reality TV als massenmedial Inszenierte Einordnung des lebendigen Körpers in die Kategorie der Luxusobjekte.

Was passiert aber, wenn wir "eines Tages aufwachen und praktisch jede Beziehung außerhalb der Familie eine bezahlte Erfahrung ist. (...) Im Zeitalter des Access beuten Unternehmen kulturelle Ressourcen aus und wandeln sie in kostenpflichtige Erlebniswelten um. Der Schaden könnte sein, dass die Disneys und Time Warners dieser Welt alle Kulturen dieser Erde in eine einzige kommerzielle Arena verwandeln.!"
Jeremy Rifkin

(Es gibt also doch Dinge, die sind überall und immer gleich ...)

In den medialen Diskursen, wie sie durch Reality TV und Reality Soaps der bereits vorherrschenden Medienkultur implementiert werden, geht es also weniger um die Problematik des Verhältnisses zwsichen Medien und Wirklichkeit, als vielmehr "um die Geschichten, die wir uns darüber erzählen, und die Ideologien, die sich in solchen Geschichten verbergen - um eine Politik der Mythen also." (Mark Dery) Der Mythos vom wirklichen Leben wird durch Medien mit dem Mythos der Ware und des Konsums gekoppelt, und zwar strukturell gekoppelt, d. h. sie werden in ihren Funktionsbeziehungen einander angeglichen (in den Partnervermittlungsshows werden Subjekte angepriesen wie das neue Deodorant, das neue Parfüm oder vilmehr wie der neueste Kleinwagen - und die angesprochene Zielgruppe benutzt zunehmend die selben Entscheidungskriterien wie beim Kauf von Konsumgütern). Und schliesslich ist Konsum - wie nicht vergessen werden darf - immer schon eine Form der Kontrolle und Disziplinierung von Gesellschaft. Man braucht nicht viel Fantasie, um die vermeintlichen Freiheiten schrankenlosen Konsums als ebenso hegemonialen Diskurs wie beispielsweise Politik zu enttarnen. Wer pausenlos darüber nachdenkt, welches Front Panel für das neue Mobiltelefon am coolsten ist, kommuniziert schliesslich auch weniger, als er/sie konsumiert. Und wer konsumiert, agiert nicht politisch und geht nicht demonstrieren. Was die aktuelle österreichische Regierung besonders freuen würde.

Wenn also das Massenmedien Fernsehen, wie alle Massenmedien und insbesondere technische Massenmedien, Gesellschaft synchronisieren, auf Dauer stellen und sozu-sagen die Welt zusammenhalten, dann ist diese Welt grundsätzlich um Konsum-ver-hältnisse zentriert, die auch im Zentrum von Medienverhältnissen stehen. Insofern lässt sich behaupten: "Die Medien sind der Stoff, aus dem die Konflikte sind." (Douglas Rushkoff) - Und insofern muss man den Euphemismus dann doch wieder zurückweisen, dass "es bloß Fernsehen ist." Denn gerade die Mechanismen, die in und rund um Reality TV Platz greifen, von Fantum bis zur Starproduktion, von der Web Site bis zum Merchandising, zeigen, dass Fernsehen bereits für einen erheblichen Teil der Gesellschaft eine Form der Wirklickeit geworden ist - nicht Bilder der Wirklichkeit, sndern eine Wirklichkeit der Bilder. "32 Kameras. 48 Mikrofone. 24 Stunden. 77 Tage. Live." Diese technische Konstellation zeugt nicht nur von Beobachtbarkeit, von Voyeurismus, vom Unterwerfen des Individuums unter Medienbedingungen, sondern zeugt darüberhinaus von einer radikalisierten medialen Produktionsmaschine, die diese Beobachtungen verwertet, und zwar sozio-kulturell wie ökonomisch. Die Bilder der 32 Kameras sind nicht einfach Bilder von etwas, über das man streiten könnte, inwiefern es noch mit Wirklichkeit zu tun hat oder nicht. Es sind Bilder, die die Umwandlung kultureller Repräsentations-verhältnisse insgesamt demonstrieren. Es sind Bilder der großen Konsummaschine, die noch die tristesten und staubigsten Kleinode des Alltags, den kleinsten Abfall von Normalität und die geringsten Spuren Intimität in funkelnde, wertvolle und begehrenswerte Edelsteine zu verwandeln vermag. Oder warum sonst schalten sich täglich drei Millionen ZuseherInnen zu?



© Reinhard Braun 2000

erschienen in:
infection manifesto Nr. 4/2000



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