TexteReinhard Braun |
Von Medien, dem Begehren, der guten alten Wirklichkeit und dem Wunsch, frei zu sein
Wer hätte das gedacht? Liebe Bewohner! Gehen wir einmal von der Annahme aus, ein grundsätzlich komplizenhaftes Verhältnis zwischen Medien, namentlich Massenmedien wie das Fernsehen (und in immer größerem Umfang das World Wide Web), und dem kulturellen Individuum zu unterstellen. Dieses komplizenhafte Verhältnis, ein grundsätzliches Angeschlossen-Sein an Medienkanäle und -oberflächen, wird auch dadurch unterstrichen, wenn man Medien als Vergegenständlichung gesellschaftlicher Kommunikations- und Austauschverhältnisse ansieht, oder wenn man annimmt, wie es Siegfried J. Schmidt ausdrückt, dass Medien die autonomen Systeme Kognition (Denken) und Kommunikation als drittes strukturell koppeln. Das bedeutet im Wesentlichen, dass Medien konstitutiv für die Synchronisation von Gesellschaft und Kultur sind und dass sie sich als Komponenten moderner Gesellschaften folgenreich auf die Selektion, Thematisierung und Gewichtung kulturellen Wissens auswirken. Das ist beileibe nichts neues. "Menschen sind heute nicht mehr Werkzeugbenutzer, sondern Schaltmomente im Medienverbund. Deshalb setzen sich immer mehr Computermetaphern für Selbst-verhältnisse durch - wir rasten in Schaltkreise ein." Computermetaphern überraschen nach gut fünf Jahren Hype um Datenhighways und Information Superhighways nicht mehr. Sie bezeichnen allerdings eine Radikalisierung der Diskurse über Kultur, die nurmehr als technologisch determinierte gedacht werden kann und teilweise recht ungeniert in einer Adaptierung von technologisch verbrämten neo-darwinistischden Terminologien beschrieben und analysiert wird. Dieser Techno-Kulturalismus trägt damit auch zur Verschärfung des Verhältnisses von Individuum (User) und Medium (Host) bei. Soziale Subjekte partizipieren recht parasitär an der großen technologisch/ökonomischen Maschine und müssen noch froh sein, wenn die Gentechnik nicht ganz auf sie vergisst und ein paar medizinische Annehmlichkeiten abfallen. Diese Radikalisierung, die sich in allen gesellschaftlichen Bereichen abzeichnet, und die in der Folge aus ArbeitnehmerInnen flexible Subjekte zu formen versucht, die dann arbeiten sollen, wenn die Tarife billig und Rechenzeiten frei sind, lässt schliesslich unser gutes altes Fernsehen nicht unberührt. Wie - so hätte die Frage der Indtendanten lauten können - sich positionieren im Feld der zahlreichen neuen Formen, in denen Medien RezipientInnen als Individuen (oder KonsumentInnen) adressieren? Wie kann das Fernsehen sich gegen VR-Interfaces und die wunderbare Welt der Interaktion als Medium überhaupt noch "Gehör" verschaffen, wie man einst so schön gesagt hat, als die Gesellschaft noch eine Polis war und es noch öffentliche Räume gegeben hat, in denen SprecherInnen Ideen, Widerstände oder zumindest Subversionen artikuliert haben? Wo wir doch heute hauptsächlich durch Tele-Votings über restriktive Kanäle als Öffentlichkeit in Erscheinung treten, oder ganz "aktiv" an Diskussionsforen teilnehmen, in denen es darum geht, "ob da jetzt was zwischen den beiden war/ist oder nicht". Kommunikation ist Trumpf. Offensichtlich erhoffen sich die Fernsehproduzenten in dieser Richtung einiges von den Reality-Shows: eine Art permanentes verdecktes Direct Marketing mit der Aussicht auf Kundenbindung. In einer ersten Hypothese lässt sich also behaupten, dass diese Sendeformate auf neuartige medientechnische Koppelungen zwischen kulturellen Subjekten reagieren, auf jene hybriden Amalgamierungen von Konsum, Unterhaltung, Information und Kommunikation zwischen Kabelsendern, Pay TV (on demand) und uboot.com. Die Botschaften sind bei allen die gleichen: U better Be Inside! Deine Meinung ist gefragt! Wenn Netzwerke, durch "Kommunikation von einem Nachbarn zum anderen hergestellt [werden], in denen Stränge oder Kanäle nicht schon vorgegeben sind, in denen alle Individuen austauschbar und nur durch einen momentanen Zustand definierbar sind, so daß die lokalen Vorgän-ge koordiniert werden (...), das Endergebnis unabhängig von einer zentralen Instanz synchronisiert wird (...) [und] eine Transduktion intensiver Zustände (...) die Topologie" (Gilles Deleuze/Félix Guattari) ablöst, dann erinnert das schon fast an die phänomenologische Struktur von Reality Shows. Austauschbare Individuen (sowohl die Zuseher als auch die - vermeintlich alltäglichen - Protagonisten der Shows), (scheinbar) keine zentrale synchronisierende Instanz (live! das wirkliche Leben!), und eine Transduktion intensiver Zustände (wir erinnern uns an Christine, Manuela und Tamara) statt einer Topologie (des Sinns) - die Klammern signalisieren allerdings bereits, dass es sich bei dieser Konstellation gleichermaßen um ein Phantasma und eine Fiktion handelt, die allerdings nur wieder die komplizenhafte Konstellation unterstreicht, in der Medien und Individuen einander zuarbeiten. Warum aber wollen wir - wider besseres Wissen - glauben, was wir sehen oder was unsere In-Box überschwemmt? Wie dem auch sei, diese inszenierte, direkte Koppelung von Wahrnehmung, Begehren und Gefühlen an Ereignisse, Informationen etc., scheinbar OHNE Filter (durch Institutionen und deren Informationsverarbeitung - die Realität also!) führt uns in Richtung von Rezeptions- und Kommunikations-verhältnissen, wie wir es aus "dem Netz" kennen (Newsgroups, Chat Rooms, Online Formen, die alle einen Mythos unzensierter, direkter Kommunikation am Leben halten, sozusagen Freiräume für die unvermittelte Artikulation von Subjekten). In der hybriden Amalgamierung dieser Mechanismen mit Fernsehformaten findet allerdings eine grundsätzlich radikalisierte Form der Koppelung von Individuen an Medien statt - vergessen wir nicht die sich in spezifischen historisch-autoritären gesellschaftlichen Verhältnissen herausgebildete Vormachtstellung von Fernsehen im Kampf um die öffentliche Meinung, um öffentliche Bilder und das Bewußtsein der Massen. Daily Soaps und Reality TV erscheinen unter dieser Perspektive als ein weiterer Ausdruck der voranschreitenden Mediatisierung und Technologisierung der Kulturen, wie sie in den letzten zehn Jahren vor allem durch den kulturellen "Motor" Informationstechnologie vorangetrieben wurde. Lassen wir uns nicht täuschen: auch wenn viel von Diversifizierung der Kulturen die Rede ist, von einer Ausdifferenzierung in zahllose Teil- und Subkulturen und dergleichen - alle diese gesellschaft-lichen Teilgruppen bleiben in je spezifischer Form dennoch rückgebunden an die großen Medienerzählungen, die die wesentliche Folie für die Ausdifferenzierung und Abgrenzung überhaupt erst herstellen. Und seien wir uns ehrlich: alle diese Subkulturen sind Zielgruppen und werden marketingtechnisch definiert und adressiert. Denn schließlich ist es immer noch leichter, zahlreiche konkurrierende Fangemeinden (Tool Time? Lindenstrasse? Cybill? Marienhof?) zu kontrollieren, als wirklich politische Gruppen und AktivistInnen! Warum lieben wir es zu konsumieren und dermaßen viel dafür in Kauf zu nehmen? Medienverbundsysteme (und auch hier treffen sich "das Netz" und "das Fernsehen") sind angesichts dieser generellen Unübersichtlichkeit als zentrale Subjektivierungsmaschinen zu bezeichnen. Und man darf fragen: woher sonst hätten wir all die Vorstellungen darüber, entlang welcher Parameter wir uns entwerfen, stilisieren, inszenieren oder entfremden sollen? Ist also unser Unbewußtes längst infiziert? Befriedigen Medien bloß jenes Begehren, dass sie zuerst generierten? "Das jüngst gemachte kalifornische Versprechen [gemeint ist die "Unabhängigkeitserklärung des Internet" durch John Perry Barlow vom Februar 1996, Anm. d. A.] einer universellen und metakörperlichen Gemeinschaft des Geistes, die sich in den immateriellen Gebieten des Cyberspaces trifft, die Befreiung des menschlichen Bewußtseins von den Beschränkungen des Fleisches und restriktiver sozialer Ordnungen erscheint als nicht viel mehr denn der Ausdruck eines utopischen Begehrens, das wenig Beziehung und keine Konsequenzen für das Entfalten der diagrammatischen Kräfte der Subjektivierung hat." Nehmen wir zunächst zur Kenntnis, dass die Netzutopien von egalitärer Gemeinschaft, Acess for All, globalem Wissenaustsuch und -transfer, schrankenloser Kommunikation und trans-nationaler Politisierung relativ gescheitert sind und sich eine recht ungeniert ökonomisch orientierte Infotainmentkultur auch "des Netzes" bemächtigt, wobei die Frage schon fast irrelevant erscheint, ob das Fernsehen mehr wie das Internet wird oder umgekehrt (multimedial in jedem Fall!). Legen wir dennoch unser Augenmerk auf die Befreiung von den Beschränkungen des Fleisches und restriktiver sozialer Ordnungen. Unterstellen wir also, dass dieses utopische Begehren nicht zwischen all den dot.coms, der Werbeeinschaltungen und Rosamund-Pilcher-Verfilmungen diffundiert ist, sondern nach wie vor eine, wenn auch verkürzte, Formel für die Sublimierung von sozialen (und auch politischen) Wünschen fungiert. Unterstellen wir also auch - neben der Infizierung unserer Wünsche durch Medien - einen gegenläufigen Mechanismus: die Aneignung und Instrumentalisierung der Medien durch die BenützerInnen. Dann muss die Frage nicht lauten, warum glauben wir an Dinge, die ganz offensichtlich manipuliert und inszeniert sind, sondern: in welcher Weise verarbeiten wir diese. "Ich bin immer davon überzeugt, daß es anderswo schöner ist, besser aussieht. Diese Bilder aus meinem wirklichen Leben sollen mich glauben machen, daß mein wirkliches Leben irgendwie etwas mehr ist, heller, mehr schöne Momente hat als in Wirklichkeit. Ich muß mich selbst davon überzeugen (...)." Christine, Manuela und Tamara scheinen jedenfalls davon überzeugt zu sein, dass es in der Kutscherhof-Enklave von Taxi Orange, die die Protagonisten (Stars?) bis auf ihre Taxieinsätze nicht verlassen dürfen und also zu Kommunikation und zur Repräsentation (wenn auch nur auf Zeit) verdammt sind, dass also das Leben in diesem Kutscherhof "schöner ist und besser aussieht", "mehr schöne [oder zumindest aufregende] Momente hat als in "Wirklichkeit". Geht man nun davon aus, dass die ganze Show im Grunde ein inszeniertes Vehikel ist, gerade der Zielgruppe der sechs- bis fünfzehnjährigen ein derartiges mögliches, in jedem Fall zu verwirklichendes Leben (wenn man es nur will und daran arbeitet!) vorzugaukeln, dann scheint die Sache gut zu funktionieren. In jedem Fall zeugen die drei Mädchen von der ganz konkreten Strukturierung täglichen Lebens durch Medienformate. Sie pilgern zu den Drehorten, zu jenen Schauplätzen, an denen Wirklichkeitsfiktion produziert wird, Schauplätze, die wie Bookmarks eine um Medien orientierte Alltagsnavigation markieren (am Abend dann Zuhause vor dem Fernseher und am nächsten Tag in der Schule Austausch von Eindrücken und Erfahrungen).
"Realität ist, was man dazu macht." Eingespannt in die Instanzen der Sichtbarkeit, Repräsentation, implementiert in die maschinellen Gefüge der Kommunikation, lebt der Wunsch nach Wirklichkeit, nach Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit, die, schöner, aufregender, nichts desto trotz Teil des Möglichkeitshorizontes jeder/s Einzelnen zu sein scheint. Jedenfalls erzählen und repräsentieren das die Medien (und beileibe nicht nur das Fernsehen). Die Mediatisierung der Kulturen und Gesellschaften scheint jedenfalls soweit fortgeschritten zu sein, dass sich paradoxerweise jeder Zugriff auf wirkliche Wirklichkeit nur wieder über Medien realisieren lässt. "Wo wir kein Medium entdecken, durch dessen Brille wir sehen, fühlen wir uns hintergangen, weil wir schon nicht mehr glauben, noch unvermittelt wahrnehmen zu können." (Hans Belting) Wenn keine Wirklichkeit ausserhalb der Reichweite von Mediensystemen mehr gedacht werden kann (und wo haben die "Universum"-Teams oder der Auslandsreport des ORF noch nicht gedreht?), dann lässt sich diese nur mehr systemimanent generieren. Und diesen Schritt scheinen viele RezipentInnen bereits nachvollzogen zu haben. Die Kritik scheint also zu kurz zu greifen, die Instrumentalisierung der Medien zur Halluzinierung von Wirklichkeit zum Scheitern verurteilt zu erklären und sozusagen Formaten wie den Reality Shows oder Online Chats eine dermaßen ideologisch verwerfliche Stützung der Rolle der Medien für den vermeintlichen Durchgriff auf Wirklichkeiten zu unterstellen: Sie sind in jedem Fall in das brisante "Spiel" um Repräsentationen und Wirklichkeiten verwickelt. Doch läuft dieses Spiel auch nicht ohne die Rolle der ZuseherInnen und UserInnen. Kulturelle Konstruktionen sind niemals allein technisch, es gibt da immer auch eine soziale Maschine, an die die technische rückgekoppelt bleibt. Doch geht die Rolle von Medien weit über die Produktion von Inhalten hinaus. Es scheint nicht das Problem zu sein, dass wir aussehen wollen wie Leonardo di Caprio oder Britney Spears, wesentlich dramatischer erscheint der Umstand, dass es diese Idole jenseits von Medienoberflächen gar nicht gibt und also nur medienintern über diese reflektiert werden kann, wozu wir uns selbst zu Medien-produkten stilisieren müssen: das eigene Ich als Mediendesignprodukt. Diese neuartige Form der Ich-Konstruktion scheint in der Tat eine neue Dynamik und Radikalität un kulturelle Verhältnisse zu injizieren. Entfremdung muss dann neu definiert werden. "Wir leben in einer Welt (...), in der die höchste Funktion des Zeichens darin besteht, die Realität verschwinden zu lassen und gleichzeitig dieses Verschwinden zu maskieren." Denken wir also weiter in kulturellen Kategorien über Maschinen, Bildschirme und all die Netz-Gadgets nach, wehren wir uns gegen die Rhetorik der Technologisierung von Kultur, vor allem gegen deren Implizite Analogien zwischen technischen, sozialen und biologischen Einheiten, und wehren wir uns auch gegen die damit verbundenen Fantasien von Ordnung, Steuerung und Kontrolle. Gestehen wir uns aber gleichzeitig ein, dass keine Gegenwart jesensits von Medien und Technologie existiert und alles, was an Wirklichkeiten und Authentizitäten generiert werden kann den "Umweg" über mediale Reflexionen nehmen muss. "Es geht nicht um unsere Anpassung an eine neue technologische Umwelt, sondern um die Erkenntnis, dass diese Technologie bereits unsere Anpassung ist." (Steven Shaviro) Und konstatieren wir für den Fernsehkonsum ein weiteres Mal gerade diese Verstrickung in Medienverhältnisse: "Die Kopplung zwischen Mensch und Fernsehen wird offensichtlich nicht mehr als Dissonanz zwischen 'natürlicher' und technisierter, verfremdeter Wahrnehmung empfunden, im Gegenteil: Eine bereits perfekt funktionierende Konsonanz des menschlichen Bewußtseins mit dem Fernsehen verhindert die Erfahrbarkeit des Phänomens, daß Kopplung überhaupt stattgefunden hat." Fernsehen liefert also ein gutes altes Beispiel dafür, wie ein Mediensystem seinen hegemonialen Anspruch durchgesetzt hat, den "main plot" für die Synchronisation von Gesellschaft und Kultur zu realisieren. Und mit "dem Netz" verhält es sich im Grunde nicht anders. Man braucht nicht viel Fantasie, um die vermeintlichen Freiheiten schrankenloser Kommunikation als ebenso hegemonialen Techno-Medien-Diskurs zu enttarnen, bei dem es ebensosehr um Kontrolle, Disziplinierung und Befriedung geht. Wer pausenlos darüber nachdenkt, welches Front Panel für das neue Mobiltelefon am coolsten ist, kommuniziert schliesslich auch weniger, als er/sie konsumiert. Und legen wir auch nicht zuviel Hoffnung in die scheinbar epidemische Wucherung von medialen Gegenbildern und Gegeninformationen, von individuellen Entwürfen von Identität und Subversion, vor allem dann, wenn diese auf irgendwelche subjektiven, "wirklichen" Verhält-nisse jenseits von Medien zu rekurrieren beanspruchen (auf ein Subjekt "vor der Entfremdung" etwa) - vergessen wir nicht Christine, Manuela und Tamara. Auch Wirklichkeit und Authentizität sind schließlich zu einem Produkt, einer Marke mutiert, welche über Reality Shows konsumiert wird (und wer konsumiert, agiert nicht politisch und geht nicht demonstrieren. Was unsere aktuelle Regierung besonders freut!) Ich denke, eines der augenfälligsten Phänomene gegenwärtiger Medienkulturen ist der zunehmend deutliche Wunsch, als Selbst nicht nur wie ein Medienbild aussehe, sondern wie ein solches funktionieren zu wollen (wie ein Zeichen, dass verbergen soll, dass es dahinter nichts zu sehen gibt). Der Körper war schon lange Gegenstand kultureller Beschriftung und Re-Formierung - jetzt erachten wir unser ganzes selbst schön langsam zumindest wie ein Videotape, das beständig neu geschnitten und mit Found Footage-Material aufgefettet werden kann. As Seen on TV! - Als ein solches, paralleles virtuelles Selbst zirkulieren wir schließlich schrankenloser und bleiben anschlussfähiger an beliebige Kontexte als innerhalb unserer behäbigen sozialen Wirklichkeiten mit ihren begrenzten Horizonten und - leider doch! - beschränkten Möglichkeiten. Was wäre also über Wirklichkeiten zu sagen? "Die Bilder der audiovisuellen Medien resultieren aus hochgradig konstruktiven Vorgänge. Auch wo scheinbar nur die 'Kamera draufgehalten wird', sind komplexe Selektions- und Inszenierungsprozesse am Werk, bis ein Bild als Medienangebot erscheint. (...) Divergenzen zwischen den Wirklichkeitsbereichen werden nicht mehr auf einer übergeordneten Ebene 'abgearbeitet', sondern als Divergenzen akzeptiert und stehengelassen. (...) Offenkundig geht es für viele beim Fernsehen nicht mehr um den Aufbau einer kohärenten Sinnstruktur, sondern um die Rezeption von Oberflächenwerten, die fast beliebig kombiniert werden können." Warum also nicht selbst in diese rekombinante Raserei eintreten? Wirklichkeit als etwas Widerständiges, das der eigenen Fantasie zum experimen-tellen Selbstentwurf im Wege steht, ist ziemlich uncool und obsolet geworden (wer trägt schon zwei Jahre dieselbe Haarfarbe?). Die geschmei-digen, adaptierbaren, interpretierbaren und revidierbaren Medienbilder ohne festen Kern bilden wesentlich attraktivere temporäre Referenzsysteme, an die man sich ankoppeln kann, die man austesten kann, um ein "eigenes Leben" zu designen und ständig zu überarbeiten. Komplizenhafte Verhältnisse überall. "Die Frage lautet also nicht, was ist der Fall, was umgibt uns als Welt und als Gesellschaft. Sie lautet vielmehr: wie ist es möglich, Informationen über die Welt und über die Gesellschaft als Informationen über die Realität zu akzeptieren, wenn man weiss, wie sie produziert werden." Und weiter Niklas Luhmann: "Die Lösung des Problems kann nicht, wie in den Schauerromanen des 18. Jahrhunderts, in einem geheimen Drahtzieher im Hintergrund gefunden werden (...). Wir haben es (...) mit einem Effekt der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft zu tun. Man kann ihn durchschauen, man kann ihn theoretisch reflektieren. Aber es geht nicht um ein Geheimnis, das sich auflösen würde, wenn man es bekannt macht. Eher könnte man von einem 'Eigenwert' oder einem 'Eigenverhalten' der modernen Gesellschaft sprechen - also von rekursiv stabilisierten Funktoren, die auch dann stabil bleiben, wenn ihre Genetik und ihre Funktionsweise aufgedeckt sind." Es nützt also auch nichts, den Fernseher wie den Computer auszuschalten. "Wenn Sie eines Tages aufwachen und praktisch jede Beziehung außerhalb der Familie eine bezahlte Erfahrung ist. (...) Im Zeitalter des Access beuten Unternehmen kulturelle Ressourcen aus und wandeln sie in kostenpflichtige Erlebniswelten um. Der Schaden könnte sein, dass die Disneys und Time Warners dieser Welt alle Kulturen dieser Erde in eine einzige kommerzielle Arena verwandeln. (...) Sie erklären nie, welche Welt sie unter Einsatz von Technologien schaffen wollen und was für eine Gesellschaft dabei rauskommen soll. (...) Wir haben noch keine Vision und keinen Gesellschaftsvertrag (...)." Doch wie könnte eine solche Vision skizziert werden? Fortsetzung folgt ... © Reinhard Braun 2000 erschienen in: Forum Stadtpark (Hg.), Zwischen Forum und Basar. 40 Jahre Forum Stadtpark, Edition Selene: WIen 2000 |
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