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Texte


Reinhard Braun
Die Desorientierung des Blicks.
Zum Verhältnis von Blick, Bild-Schirmen und Kunst

"Ob nun durch Bildüberflutung oder durch die Beschleunigung des Erscheinens und Verschwindens der Dinge, die Augen kommen nicht mit."
Dietmar Kamper, Bildstörungen, 1994

"Die Vermittlungsinstanz zwischen Subjekt und Blick, die bestimmt, wie das Subjekt 'fotografiert' (d. h. gesehen) wird, wie es die Funktion des Blicks erfährt und wie es sieht, nennt Lacan den Bildschirm. (...) Damit ist auch impliziert, dass es keine sogennante 'direkte' Wahrnehmung der Dinge geben kann, sondern nur eine durch den Rahmen bzw. Bild-Schirm kulturell intelligibler Bilder vermittelte (...)".
Susanne Lummerding, Darüber im Bild zu sein, im Bild zu sein, 1998

Man muss sich nicht mit Medientheorien beschäftigen, um ständig auf Blickverhältnisse zu stossen. Seit Plato wird Erkenntnis als eine Leistung des Blicks beschrieben. Das Individuum ist seitdem nicht mehr primär durch den Körper in seiner Umwelt verortet, es eignet sich diese Umwelt vielmehr durch den Blick an. Doch sind es heute keine Schattenbilder mehr, von denen dieser Blick getäuscht wird. Gegenwärtig sind es fluktuierende, energetische Oberflächen von Bildmaschinen, zunehmend fluide Interfaces von Mediensystemen, die das Individuum in ein berührungsloses Projekt einer fortschreitenden Transparenz der Welt zwingen. Oberflächen und Interfaces, die darüberhinaus Blickverhältnisse überschreiten und, in einer Umkehrung von 400 Jahren Bildgeschichte, wieder beginnen, den Körper bzw. ein spezifisches Konzept des Körpers in ihr "Spiel" von Sichtbarkeit, Transparenz und Manipulation zu verstricken: Interaktion und Virtualität sind die Stichworte dieser Modulierung des Individuums/der Körper zu einem Gegenbild - einem Spiegel? - von Medienbildern.

"Performance for no Audience" (1998) von Margret Wibmer beschreibt am Übergang von Körper, Material und Raum eine Inszenierung dieser Schnittstellen für das Medium Fotografie. In einen spezifisch entworfenen gelben Gummianzug gehüllt mutiert der Körper zur Skulptur und Oberfläche, oszilliert zwischen Individuum und Objekt und damit sozusagen zwischen verschiedenen Koordinatensystemen und Diskursen. Durch diesen skulpturalen, semi-individuellen Körper/Gegenstand wird ein breiter Assoziationsraum von Fetischismus bis Biotechnologie erzeugt. Als wesentliches Moment erscheint die Unmöglichkeit einer Fixierung dieses Körpers, einer eindeutigen Ein- und Zuschreibung. Darüberhinaus wird in den Fotografien ersichtlich, dass dieser virtualisierte Körper in einem ständgen Prozess der Bewegung und Mutation steckt, die durch die plastische Qualität des Materials angezeigt wird. Bild und Körper, Material und Geste, Raum und Bewegung sind in diesem Körper - von dem kein Blick ausgeht - unauflöslich verschränkt. Als Kunst-Körper wird er selbst zu einem Interface zwischen dem Raum der Betrachter/innen und dem "eigenen" Raum, der zwischen real und virtuell einen zwiespältigen Status einnimmt. "Off the Wall" (1999), eine Zusammenarbeit mit Günther Zechberger, verschärft die Zeitdimension dieses Skulpturenkörpers: als Virtual Reality Oper für das Web und in der Folge als CD-Rom konzipiert, ist es hier der/die User/in, der/die in einer direkten Bespiegelungsmöglichkeit des Kunstkörpers Bild- und Raumsequenzen produziert. Die Geschwindigkeit der Bewegung wie die Anzahl der möglichen Bickwinkel ist frei wählbar. Der Körper wird vollständig aus seiner räumlichen Definition gelöst und disponibel, oszilliert zwischen (virtuellem) Raum, (temporärer) Oberfläche und innerhalb einer spezifischen Klangsprache hin und her. Welchen Körper umkreist der (technologische) Blick der User/innen hier eigentlich bzw. welcher Körper wird durch die Navigation der User/innen produziert? Welche Räume besiedelt dieser Körper? Teilt dieser Körper Räume mit den Subjekten, die auf ihn zugreifen, ihn herstellen? Vor allem letztere Fragestellung thematisiert die geplante Realisierung von "Off the Wall" als Rauminstallation, bei der das Publikum sich inmitten der Bühne befindet, Regisseur, Bühnenbildner, Dirigent und Choreograf gleichermaßen ist. Anhand dieses konzeptuellen Prozesses von Bildschirmoper über Online-Oper zur Rauminstallation wird deutlich, dass sich das Interesse Margret Wibmers um Schnittstellen dreht, Schnittstellen zwischen Körpern, ihrer Oberflächen und deren Verschränkungen mit Räumen, mit Blicken und Klang, und nicht zuletzt mit kulturellen Zeichensystemen.

"Das Virtuelle ist essentiell beweglich, metaphorisch, metamorphotisch. Das Virtuelle verknüpft das Bild und den Körper, die Geste und das Visuelle, die Bewegung und das Gedächtnis auf eine neue Weise."
Philippe Quéau, Virtuelle Visionen, 1996

Daraus erhebt sich allerdings keineswegs der Körper in jener Form, wie wir ihn zu bezeichnen oder zu erfahren gewohnt sind, wie ein Phönix aus der Asche: was entsteht, ist ein ebenso metaphorischer, metamorphotischer - post-humaner - Körper als Gadget, als Servomechanismus von Medienformationen. Die Frage nach einer möglichen Desorientierung des Blicks richtet sich also nicht nur auf jenen Blick des Individuums, des Subjekts, sondern fragt auch danach, wie dieses Subjekt die Funktion des Blicks erfährt, wie es selbst zu einem Gegenstand, einem Objekt von Blickverhältnissen wird, in die es permanent verstrickt ist und als dieses Objekt selbst ein unauflösliches Amalgam von Blick und Körper. Es sind nicht nur die Bilder, die wir anblicken, es sind auch die Bilder, die "uns" anblicken. Und dieser "Blick der Bilder" ist es, der zunehmend die Organisation und Ordnung von Umwelt, Öffentlichkeit und Gesellschaft bestimmt, der den Individuen und Körpern ihre Stellung zuweist. Indem wir gesehen werden, repräsentiert werden, formieren sich unsere Blicke und Körper innerhalb eines Regimes des Bild-Schirms, der Bildschirme neu. Blickverhältnisse sind Machtverhältnisse, Verhältnisse von Kontrolle und Disziplinierung von Blicken, Repräsentationen und Körpern.

"Zweifellos beinhaltet jede Repräsentation, genauer gesagt der Akt, andere zu repräsentieren (und damit zu reduzieren), beinahe immer eine gewisse Art von Gewalt gegen den Gegenstand der Repräsentation (...). Der Akt oder Prozess des Repräsentierens impliziert Kontrolle, er impliziert Akkumulation, er impliziert Eingrenzung, er implziert eine Art von Entfremdung oder Desorientiertheit seitens des Repräsentierenden."
Edward Said

"Jede Sichtweise auf ein bestimmtes Objekt verändert dieses Objekt. Es bekommt je nach Blickrichtung eine Eigentlichkeit und Bestimmtheit. Durch die Vielzahl der Möglichkeiten, seine Ansicht zu verändern, entsteht eine Unbestimmtheit (eine andere Sicht)." (Klaus Bartl) Das Objekt dieser vielgestaltigen Sichtweisen, wie sie in der Malerei Klaus Bartls zu finden sind, ist ein dominantes Element zeitgenössischer Kultur: Architektur. Dabei geht es aber um eine komplizierte Verknüpfung von Ästhetik und Raum. Architektur ist seit dem 18. Jahrhundert nicht nur symbolische Form, sie ist auch eine Maschine, die im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Disziplinierungsprozeses eine wichtige Rolle spielt. In dieser Funktion spiegelt sie quasi einen Abstraktionsprozess, dem Gesellschaft unterworfen wurde. Dieser Abstraktionsprozess taucht bei Klaus Bartl in ganz anderer Weise, und zwar als malerisches Konzept wieder auf: architektonische Oberflächen und Strukturen werden in abstrakte malerische Oberflächen übersetzt (wie etwa in den "Fassadenstücken", 1993/94). Das geht soweit, dass in der Serie "Städtebilder" (1994) keinerlei Stadtansichten wiedergegeben werden, sondern Ausschnitte aus Stadtplänen. Die Malereien reduzieren komplexe Raumverhältnisse und Oberflächenstrukturen in reduzierte, streng formal organisierte andere Oberflächen. Das malerische Bild - schon fast totgesagt als Medium zeitgenössicher Kunst - wird bei Klaus Bartl zum Austragungsort von aktuellen kulturellen Überlagerungen (wiederum eine Schnittstelle, könnte man sagen): zum Teil nehmen die Architekturstücke fotorealistische Züge an ("Ausblick II", 1996), in jedem Fall suggerieren sie einen Blick, der ganz nahe ans Objekt heranzoomt, bis seine Erscheinungsweise zu kippen beginnt und die visuelle Qualität sozusagen überschlägt - vom Raum in die Fläche, von einem Medium ins andere, vom Anblick zum Maschinenbild. Die Malereien zeugen nicht nur von einer konzisen malerischen Position, sie zeugen auch von einem immer schon künstlichen Blick, von einer konstitutiven Entfremdung zwischen Gegenstand und Wahrnehmung und vor allem von einer komplexen Verschränkung von Wahrnehmung, Raum und medialen Oberflächen.

Peter Kogler gewinnt seine Motive (Ameisen, Gehirnwindungen, Röhrensysteme als Blutkreisläufe?) sozusagen aus Bereichen organisierter Materie, denen alle eine Form immanenter Multiplikation und Modi des Informationstransports eigen sind, gewissermassen Sinnbilder von Netzwerken. Indem Peter Kogler diese Motive in neue, künstliche Anordnungen und Wiederholungen zwingt, und diese dann auf Räume, Raumkörper oder Raumteiler appliziert, erzeugt er nicht nur eine sehr spezifische Form ornamentaler Dekoration oder eines ästhetischen Raumbezugs, er definiert durch diese Eingriffe Räume und Oberflächen neu und nicht zuletzt auch das Verhältnis von Subjekt und Raum, die Art und Weise "wie das Auge Räume liest und erfährt" (Othmar Rychlik). Der architektonische Diksurs gegen Ende der 80er Jahre war geprägt von einer Debatte um Medienfassaden, um intelligente Oberflächen, variabel, temporär und quasi energetisch. Einer der Ausgangspunkte der Projekte von Peter Kogler ist sicherlich von dieser Auffassung medialer Oberflächen geprägt, einer Projektion medialer auf architektonische Oberflächen, die auf eine Transformation von Architektur selbst zielt. Schliesslich sind die Interventionen Peter Koglers in jedem Fall als Transformationen bestehender Raumverhältnisse anzusehen (und auch bestehender Blickverhältnisse). Für "artttirol '97 Moskau" hat der Künstler eine LKW-Plane mit netz- und röhrenartigem Muster überzogen und so ein Objekt und einen Innenraum zugleich entwickelt, das/der quasi nur aus Oberflächen besteht, das/der die Betrachter/innen auf Zeit vor Ort in ein ambivalentes Spiel der Wahrnehmung zwingt: auf den ersten Blick geben sich die Motive klar zu erkennen, sind präzise mittels Computertechnik produziert und entziehen sich dennoch einem Erfassen, einem Erkennen. Das gleiche läßt sich für den Raum feststellen: zunächst als vollständig definierter Innenraum erkennbar, löst die ornamentale Oberfläche zugleich diesen Raum auf. Indem Peter Kogler entsprechend der Logik seiner Arbeit prinzipiell jede Oberfläche als "Bildgrund" für seine visuellen Formen heranzieht, lässt sich im Grunde gar nicht mehr von Motiv oder Muster, und schon gar nicht von Bildern sprechen. Alles dies sind Begriffe aus einer bildorientierten Ästhetik. Die Ästhetik Peter Koglers bezieht sich aber auf den Raum und auf die Wahrnehmung bzw. auf Verschiebungen in deren Gefüge.

Wenn allerdings die Augen im Rahmen der skizzierten Blick-, Repräsentations- und Kontrollverhältnisse nicht mehr mitkommen und den Körper quasi längst hinter sich gelassen haben scheint die kulturelle Vermittlungsinstanz des Bildschirms als Summe möglicher Blickverhältnisse ausgesetzt zu sein, sich zerstreut zu haben. Es ist also nicht nur der subjektive Blick, der von einer Desorientierung erfasst wird, sondern auch der Blick des Repräsentierenden (der Medienmschinen mit ihren unzähligen visuellen Gadgets). Es handelt sich aber innerhalb des bisher entworfenen Szenarios der Zerstreuung um einen spezifischen Blick, um spezifische Blickverhältnisse, d. h. um historische Konstellationen, und es muss trotz aller Mediatisierung von Wahrnehmung und Erfahrung quasi ein Blick nach dem Blick möglich und denkbar bleiben. Es ist kein Ende der Repräsentationen abzusehen. Und jede denkbare Umkehrung oder Verkehrung herrschender Blickverhältnisse - die immer auch Herschaftsverhältnisse implizieren - ist in die Koppelungen von Wahrnehmung, Körper und Technologie verstrickt, weshalb jede Rekonfiguration des Bildschirms allgemeine Neuformierungen kultureller Verhältnisse anzeigen (ohne dass dadurch Kultur zu einem Ende käme oder sich vollständig in Technologie verflüchtigte).

"Falls es überhaupt einen gemeinsamen Nenner der postmodernen Diskurse gibt, so den, daß mit dem Aufstieg eines Modells der (natur-) wissenschaftlichen Visualisierung der Verlust eines jeden totalisierenden Modells, der 'wirklichen' Welt wie deren Repräsentation, einhergeht."
Timothy Druckrey, C++, 1997

Was Timothy Druckrey hier beschreibt, ist quasi das Verschwinden des Wirklichen hinter zahllosen (teilweise divergierenden) Analysen, Beschreibungen, Modellen und Politiken: Film, Fernsehen, Presse, aber auch Medizin, Militärtechnologien, Wirtschaft, Konsum und viele andere Kulturtechniken mehr erzeugen permanent Repräsentationen von Wirklichkeiten: Erfassen, Aufzeichnen, Wiedergeben, Manipulieren, Zirkulieren, Interpretieren - zahllose Taktiken und Strategien fragmentieren und rekonfigurieren Wirklichkeiten als Produkte ihrer spezifischen Zugriffsmodalitäten. So auch visuelle Medien. Es entstehen Panoptiken von Körpern, Landschaften, Beschäftigungsverhältnissen, Konsum- und Wählerverhalten und schliesslich eine unendliche Topografie von Bildern. Wenn also all diese Repräsentationen und Bedeutungen in der Geschwindigkeit ihres Zirkulierens den Bildschirm quasi auflösen, dann lässt sich postulieren, dass die gravierendste Veränderung der Blickverhältnisse in ihrer maßlosen Expansion und Zerstreuung liegt. Wenn beinahe jedes kulturelle Austauschverhältnis in ästhetischen Kategorien beschrieben werden kann, ist nichts mehr ästhetisch. Wenn alles sichtbar, in ein Mosaik von Sichtbarkeitsfragmenten zersprengt wird, ist nichts mehr sichtbar (verschwindet "hinter" einer vollständigen Transparenz). "Heute löst sich das linear perspektivierte, homogene Welt-Bild in Facetten eines Mosaiks auf." Geben nicht gerade solche Zustandbeschreibungen seit langem schon Anlass, in Begriffen des Verfalls, der Auflösung, des Verschwindens und letztendlich einer grundlegenden Desorientierung von Kultur zu sprechen? Ist es nicht gerade der Verlust des Modells der Aufklärung (ein klassisches Bickverhältnis), das einhergeht mit dem Verlust totalisierender Beschreibungsmodelle (bis hin zur Chaostheorie, die ein kurzes und heftiges Diskursintervall erzeugt hat)?

"Das Bild verliert seine Tabulatur, es verläßt seine Eigenschaft als Bild. Nicht Reduktion eines Bildes, sondern ein Ding anderer Art, das einer anderen Technik oder anderen Praxis angehört, einer anderen Kunst oder anderem als Kunst." (Jean-Luc Nancy) Früher einmal, wir erinnern uns kaum, hatten Bilder die Funktionen von Fenstern in die Welt. Das Bild war immer etwas, das sich der umgebenden Oberfläche entzogen hat, diese transzendierte oder zurückwies. Alle diese Bilder setzten eine/n Betrachter/in voraus, die einen bestimmten Standpunkt dem Bild gegenüber einnahm (dieser Standpunkt war immer auch ein ideologischer). Was aber, wenn das Bild zurückweist, Bild zu sein? Was, wenn es mit der umgebenden Fläche, mit dem umgebenden Raum eine art symbiotischer Beziehung eingeht, in der beide aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig markieren? Worauf könnte sich dann der Blick der Betrachter/innen beziehen? Susanna Fritscher positioniert ihre - teilweise großformatige, obwohl großformatig nicht das richtige Wort ist, sagen wir: weit aus- und eingreifende - Malerei in diesem Spannungsfeld von Raum, Malerei, Blick (und Licht: dem Übergang von Licht in Schatten, wie der durch Raumsituationen entsteht). Es existiert kein stabiler Blickpunkt diesen Bildern gegenüber, bei denen es sich um keine Bilder mehr handelt. Keine Semantik erlaubt irgendeine Art der Bezeichnung dessen, das in den Malereien nicht geschieht. Der Blick wird zurückgewiesen, er gleitet ab, er wird in Bewegung versetzt, um die Konstellation der gesamten Anordnung zu "lesen", wobei es nichts zu lesen gibt - was so wiederum nicht stimmt: wie jede Intervention transformiert auch die Malerei von Susanna Fritscher das Raumgefüge des Ortes der Präsentation. Es ist dieses Wechselspiel zwischen Intervention und Raum, das den dabei neu entstehenden Raum in Bwegung versetzt. Die Bewegung wird allerdings durch die Betrachter/innen erzeugt - insofern präsentiert Susanna Fritscher Oberflächen/Räume, die sich ihrerseits den Blicken aussetzen, die den Blicken Raum geben ohne sie zu fixieren. Es ereignet sich gewissermassen ein Verschwinden ohne Entfremdung, eine Dezentrierung ohne Entfremdung. Arbeiten diese Malereien einer medialen Krümmung des Raumes, einer medialen Zersplitterung des Subjekts entgegen?

Seltsame Gegenstände bevölkern die Ausstellungen von Werner Feiersinger (etwa im Raum aktueller Kunst, Wien 1999, oder in der De Appel Foundation, Amsterdam 1996): zwischen Skulptur, Architektur und Gebrauchsobjekt oszillierend handeln die skulpturalen Objekte von Übergängen, Transformationen und Transmutationen, von funktionalen und kontextuellen Verschiebungen. Zunächst stellt sich die Frage, welchen Räumen, welchen diskursiven Räumen diese formal und topologisch reduzierten Objekte überhaupt angehören. Fragil und geradezu implodierend, lediglich minimal raumgreifend zeigen sie den Betrachter/innen auf den ersten Blick sowohl Form, Material und Konstruktionsprinzip. Doch führt dieses offensichtliche Vor-Augen-Führen - sich dem Blick unmitelbar aussetzend und in einer obszönen Verkehrung das Innere nach aussen kehrend - zu keiner semantischen Klassifizierung: autonom und doch in Interaktion mit dem umgebenden Raum, Funktionen skizzierend (wie im "Fußabstreifer", 1997, oder im "Bett-Bühnenobjekt", 1998) und doch völlig funktionslos auf sich selbst bezogen, widererkennbare Materialien vorweisend, die hinter ungewöhnlichen Oberflächenbehandlungen und ästhetischen "Aufrüstungen" verschwinden. Quasi jenseits von Material, Objekt, Architektur und Raum inszeniert Werner Feiersinger Weiterentwicklungen des Begriffs der Skulptur, die wie theoretische Markierungen Räume verdichten, ohne sich vollständig zu materialisieren. Schnittstellenobjekte. Es existiert kein stabiler Blickpunkt gegenüber diesen minimalen Objekten, der Blick und damit das Erkenntnisbegehren, das Begehren des Erkennens von Seiten der Betrachter/innen wird aktiviert, in ein unaufhörliches Umkreisen der Objekte verstrickt. Auch hier erlaubt keinerlei Semantik eine Bezeichnung dessen, was da ist, weil das Erscheinen der Objekte massiv von dem überlagert wird, was nicht erscheint, was als Negativ-Form diesen skulpturalen Gegenständen aber qausi zugrundeliegen muss. Werner Feiersinger "spielt" massiv mit denjenigen Formen, die nicht zur Darstellung gelangen - Durchsichten und Einsichten in die räumliche Konfguration der Objekte spiegeln quasi die Auslassungen, Leerstellen und blinden Flecke desjenigen, das schliesslich zur Erscheinung gelangt. In dieser Dialektik von Raum und Nicht-Raum erzählen die skulpturalen Gegenstände gleichermaßen von einer Dialektik von Zeigen und Verbergen, von Transparenz und Verspiegelung, eine Dialektik, die die Situation des zeitgenssoschen Subjekts in seinem gnadenlosen Bestreben, die Wirklichkeit der Dinge zu enthüllen charakterisiert.

Im Zentrum des Verlusts jeder totalisierenden Weltbeschreibung steht eine grundsätzliche Dezentrierung: das Individuum/Subjekt wird aus der exklusiven Stellung zentralperspektivischer Weltsicht und Welterfassung gedrängt. Nach dieser Verdrängung gibt es keine panoramische Wahrnehmung mehr. Unter der Voraussetzung einer solchen Dezentrierung verschiebt sich auch jedes Verhältnis von Betrachter/in und Gegenstand - und dies nicht nur im Sinne der Wahrnehmung, des Blickes allein. Ein homogener Wahrnehmungsraum ist gleichzusetzen mit einem homogenen Bedeutungsraum: ein zentralperspektivisches Konstrukt, in dem Signifikant und Signifikat in geordneten Verhältnissen Sinn produzieren. Der/die Betrachter/in befindet sich in einem Kontinuum des Sinns, der signifiziert und entschlüsselt wird. Bedeutung "ereignet" sich hier und jetzt. Jede Intervention in dieses Verhältnis interveniert gleichzeitig in die dadurch befestigten Mechanismen der Bedeutungsproduktion, der Herstellung und Vermittlung von Sinn. Die Dezentralisierung betrifft also keineswegs nur die Wahrnehmung oder die Möglichkeit zur visuellen Beschreibung von Wirklichkeiten, sie betrifft ganz wesentlich alle kulturellen Formen zur Bedeutungsproduktion, zur Herstellung von Sinn, von Konsens, die Formung von Diskursen, betrifft die Dispositive der Kommunikation und des Austauschs.

"Wir leben im Übergang von einer organischen Industriegesellschaft in ein polymorphes Informationssystem (...)."
Donna Haraway, Manifest für Cyborgs, 1995

In diesen Verschiebungen - um nicht zu sagen "Faltungen" - des ästhetischen wie semantischen Terrains der Kultur(en) gründet auch der Umstand, daß zahlreiche identitätsstiftende und -tradierende Vorstellungen, Theorien, Genres, Medien, Praktiken, auch und besonders das System der Kunst, ihre generalisierende und somit stabilisierende Funktion verloren haben und auch nicht mehr eindeutigen Bedeutungshorizonten (Diskurspraktiken) zuordenbar sind: Kultur / Kommunikation / das Soziale / Öffentlichkeit / Werk / Autor etc. finden nicht mehr in und durch verschiedene Verknüpfungen und Überlagerungen von gesellschaftlichen "Räumen" (Wahrnehmungshorizonten) statt, sondern in "(...) Netzwerke[n] von endlichen Automaten, in denen die Kommunikation von einem Nachbarn zum anderen hergestellt wird, in denen Stränge oder Kanäle nicht schon vorgegeben sind, in denen alle Individuen austauschbar und nur durch einen momentanen Zustand definierbar sind, so daß die lokalen Vorgänge koordiniert werden und das Endergebnis unabhängig von einer zentralen Instanz synchronisiert wird." (Deleuze/Guattari) Ohne zentrale Instanz heisst: nicht im Hinblick auf eine ausgezeichnete Stellung innerhalb eines Wahrnehmungs- oder Bedeutungsspektrums, welche lange durch das neuzeitliche aufgeklärte Subjekt eingenommen wurde. (Zerstreuung ist also in jedem Fall eine Frage der Perspektive.)

"Es handelt sich um die Cäsuren, die den Augenblick zersplittern und das Subjekt in eine Vielzahl möglicher Positionen und Funktionen zerreißen."
Michel Foucault

"Loosing Control" nennt Martin Walde eine fortlaufende Serie von Storyboards, die seit 1990 entstehen, und die bestimmte Ereignisse und Begebenheiten im öffentlichen, städtischen Raum aufzeichnen, dokumentieren und choreografieren, welche überraschend und abrupt auftreten, ohne spektakulär zu sein, ohne, dass es sich dabei um "decisive moments" handelt. In einigen wenigen "L.C."-Scripten werden Fotografien oder Videostills eingearbeitet. Die Scripts entstehen im Vorbeigehen oder Vorbeifahren, werden aus der Erinnerung aufgezeichnet und beschrieben. Zunächst äußert sich in diesen ganz unterschiedlichen Szenen eine alltägliche, inkonsistente, sprunghafte Welt, voll von fremden Situationen, doch ohne wirkliche Ereignisse. Es zeigt sich auch die Unmöglichkeit einer adäquaten Beschreibung solcher Szenen. Es entsteht ein Pandämonium von unzusammenhängenden und fragmentarischen Geschichten (oder potentiellen Geschichten) voller Leerstellen: der Autor selbst bliebt fraglich und die Leser/innen/Betrachter/innen finden keine Anknüpfungspunkte innerhalb der narrativen Sequenzen. Wird hier überhaupt ein Blick, eine Perspektive auf einen Wirklichkeitsauschnitt vermittelt? Oder geht es gerade um die Fragwürdigkeit jeder Zeugenschaft und damit in Folge um die Kontingenz und Inkohärenz jeder eigenen Erinnerung? Spielt das eine Rolle? Martin Walde ist grundsätzlich an Handlungen, Handlungsfeldern, an Interventionen in bestehende Handlungsmuster interessiert. Dieses Interesse spiegelt sich auch in den prozessualen, das Publikum einbeziehenden Installationen (wie "Woobie", Wien 1998, Tokyo 1999, oder "Jelly Soaps", Amsterdam 1998, und "Tie or Unite", Tokyo 1999), wobei es gleichermaßen um Irritation, um Grenzen zwischen Bezeichnungs- und Handlungssystemen geht (Kunst - Alltag) wie um die Vervollständigung der Arbeiten durch die Besucher/innen. In diesem Sinn intervenieren auch die "L.C."-Skripts in den alltäglichen Ablauf der Dinge, indem sie als Filmscripts für fiktive Filmemacher diesen Alltag quasi inszenieren, zumindest fiktionalisieren, ihn als potentiellen Teil einer Filmstory präsentieren. Die Leseprozesse der Betrachter/innen vervollständigen sozusagen permanent die Fragmente zu einer möglichen - ebenso fiktiven - Geschichte. Es handelt sich dabei allerdings um Projektionen, die eine Vielzahl von Bedeutungen, Assoziationen, Sinnhorizonte und Authentizitätsspuren in die Arbeiten einblenden, ohne dass diese eine Bestätigung erfahren würden. Damit führen die "L.C."-Scripts exemplarisch die semiotische Komplexität von zeitgenössischen Bildproduktion vor Augen.

Der Verlust eines beschreibbaren und bezeichenbaren Bild-Schirms als Horizont kultureller Bedeutungsproduktionen bedeutet allerdings weder, dass keine Produktion von Bedeutung mehr stattfindet, noch, wichtiger, dass keine Prozesse der Herrschaft, Kontrolle und Disziplinierung mehr Platz greifen könnten. Das Gegenteil ist der Fall. Es findet eine epdemische, wuchernde Produktion von Bedeutungen statt, die einhergeht mit ebenso epidemischen und wuchernden Strategien der Kontrolle und Überwachung. Es ist gegenwärtig allerdings kein ins Zentrum einer Hegemonie gesetztes Über-Ich, das die Gesellschaft erfasst, kartografiert, einfasst und kontrolliert - die Zerstreuung und Aufsplitterung von Repräsentationsverhältnissen, die Etablierung einer umfassenden "Sight Machine", wie sie vom Critical Art Ensemble bezeichnet wird , hat sich in zahllose Kanäle und Praktiken kulturellen Austauschs eingenistet. Die Idee eines Blicks, der ungesehen alles überwacht, einer transparenten Gesellschaft, in deren Zentrum ein spähender Blick herrscht, hat sich verschoben in Richtung einer Macht-Maschine, die jeden einschliesst, analog zur Bild- und Blickmaschine, die (beinahe) alles und jeden erfaßt und einschliesst. Kultur hat dann "keinen zentralen Automaten und wird einzig und allein durch eine Zirkulation von Zuständen definiert." Deleuze/Guattari) Innerhalb einer derartigen Zirkulation lassen sich Blick, Gegenstand und Repräsentation nicht mehr ohne weiteres auf Distanz stellen (und dadurch in ein gleichermassen ästhetisches wie epistemologisches Verhältnis setzen).

"Dadurch kehrt sich derjenige Raum, in dem bislang das Reale und das Bild umeinander kreisten, um in eine wechselseitige Anziehung beider."
Edmont Couchot, 1991

Auf einer kleinformatigen weißen Leinwand erscheinen in symmetrischer Anordnung zwei schwarze Punkte. "mimesis" betitelt Marc Mer diese Arbeit aus der Serie "welt · weltbilder". Auf einer weiteren Arbeit erscheint neuerlich ein Punkt ("welt"), dem ein Punkt zwischen zwei kurzen Linien gegenübergestellt ist ("tv"). "Welt", Medien, Weltbilder - Marc Mer thematisiert in vielen seiner Arbeiten den Zusammenfall von Repräsentation und Medium und die dadurch entstehenden Probleme von Wahrnehmung und Erkenntnis. Wenn die Projektionsflächen von Medien und die "welt" in eins zusammenfallen, in eins gesetzt werden, es also (nahezu) keinen Unterschied mehr zwischen Bild und Welt, Bildwelten und Weltbildern gibt, hat eine definitive Konjunktion von Welt und Bild stattgefunden. Bild, Medium, Diskurs, Oberfläche, Schnittstelle, Abbildung - immer wieder werden diese Kategorien, die sich im Zentrum kultureller Mechanismen festgesetzt haben, einer Bearbeitung unterzogen, einer Permutation, immer wieder wird der Blick auf die Systeme der Repräsentation, Bezeichung, Aufzeichung und Beschreibung gelenkt, immer wieder werden die Medien/ Apparate-Systeme weniger kritisiert, als vielmehr bezweifelt, einem Zweifel im Hinblick auf ihre Funktionalität als Erkenntnisinstrumente unterworfen. "pictures" nennt Marc Mer eine weitere Serie von durch weisse Grundierfarbe versiegelten, gefalteten Zeitungen, die jeweils ein bestimmtes Bild freilassen, freilegen. Etwa Spencer Tracy und Catherine Hepburn, wie sie sich einen vielsagenden Blick zuwerfen, der nur gelesen werden kann als ein Blick, der selbst wieder Bilder erzeugt, intelligible, erotische, intellektuelle, neurotische - jedenfalls Bilder, die immer schon kulturell besetzt zirkulieren, einen Zirkel von Bild und Begehren in Gang halten. "Welt" erscheint bei Marc Mer als Mega-Bild-Maschine - und genau aus diesem Grund ist den Bildern zu misstrauen. In komplexeren Installationen werden die Bild-/Blick-/Erkenntnisverhältnisse in verschränkte Raum-Oberfächen-Konstellationen übersetzt, wie etwa in "chronoscop (zeitung). zum zeitgenössischen unfall zwischen innenraum und aussenraum" (1998/99), oder in "scene/obscene" (1997/98). Zeitungen auf Wände appliziert, als raumteilende Vorhänge eingesetzt, Monitorlicht, dass die Betrachter/innen durch die "Medienoberfläche" der Zeitungen sichtbar werden lässt: eine von Medien umzingelte und gleichzeitig erhellte und informierte Welt. Im anderen Fall Pappschachteln mit Spiegelböden auf spiegelnden Böden - eine Installation, die eine unendliche Anzahl von Blicken nicht nur ermöglicht, sondern erzeugt. Blickverhältnisse in Raumverhältnissen als metaphorische Erkenntnisfiguren: Medienräume als Territorien einer Entbergung und Transformation, die den Besucher/innen ermöglichen, verschiedene Position gegenüber verschiedenen Medien einzunehmen und dadurch ihre/seine Stellung im Rahmen dieser allgegenwärtigen Weltbildungsmaschinen zu reflektieren. Möglicherweise ein Projekt der Aufklärung des Blicks als aufklärerischer Blick.

Die Symptomatik der Auflösung eines verbindlichen kollektiven Repräsentationshorizonts - die Desorientierung des Blicks - führt also direkt zu neuen Formen einer Politik der Kontrolle und Macht. Da mit der Auflösung historischer Blick- und Repräsentationsverhältnisse sozusagen auch der Rahmen für diese Repräsentationen und Blicke verschwunden ist, sind alle gegenwärtigen Systeme von Visualisierung im weitesten Sinn dabei, ständig neue Rahmungen zu entwerfen (Sendeformate des Fernsehens, unzählige "Windows®"-Bildschirme, aber auch Strategien von Interaktivität und Partizipation). Eingebettet in epidemisch wuchernde Bildmaschinen bleibt unsere Wahrnehmung dennoch nicht ohne Rahmung, ohne Einfassung (und, wie hinzugefügt werden muss, die Körper nicht ohne kulturelle Beschriftung).

Symmetrie, Unendlichkeit, Pansexualität - mit diesen Begriffen kennzeichnet Peter Weiermair die künstlerische Praktik Elmar Trenkwalders. In den dabei zur Erscheinung gebrachten malerischen und skulpturalen Objekten sind Momente des Übergangs, der Überblendung, der Metamorphose und der Allegorie zentral - eine Überblendung von körperlichen und architektonischen Merkmalen, eine Übertragung von Leblosem auf Belebtes und umgekehrt. Dabei werden nicht nur zahlreiche inhaltliche, historische und ästhetische Aspekte und Fragmente verschränkt, eine "proto-linguistische Verwendung von Formen" (Dan Cameron) - was dabei entsteht und was sowohl die Skultpuren als auch die Malereien auszeichnet, ist eine permanente Infragestellung der abgeschlossenen, vollendeten Form. Personen nehmen die Eigenschaften von Gebäuden an und umgekehrt. Beide Geschlechter koexistieren innerhalb eines einzigen "Organismus". Mutationen und Hermaphroditen befinden sich in undefinierbaren Zuständen der Entwicklung, sexuelle Symboliken, Metaphern und Allegorien sind unauflöslich mit architektonischen symbiotisch verschränkt. Die einzelnen Elemente und Fragmente bleiben prinzipiell identifizierbar, die Synthese, in der sie zur Erscheinung gebracht werden, entzieht sich jedoch einer Klassifikation. "Ich denke, dass man mit definierbaren (Verknüpfungs-) Methoden nichts Wesentliches hervorbringen kann. (...) Die verschiedenen Elemente, die man in meinen Bildern und Skulpturen findet betrachte ich eher als Teil einer persönlichen, inneren Welt." (Elmat Trenkwalder) Gegen jede Festlegung und Verfestigung entwirft Elmar Trenkwalder also seine architektonischen Skulpturen, die keine Architektur sind, und seine symbolisch aufgeladenen Malereien, die keine methodische Symbolik entwickeln. Es ist nicht die Verschiebung, die Überlagerung, die hier als Methode ambivalente und paradoxe Objekte produziert, es ist ein sich als ambivalent und paradox definierendes Subjekt, das spekulative Vorstellungen und Fantasien produktiv werden lässt und den Objekten ihren metaphorischen Charakter einschreibt. Elmar Trenkwalders Arbeiten scheinen exemplarisch einen Blick der Dingwelt zu repräsentieren, der uns aus den künstlichen und künstlerischen Objekten entgegenschlägt und "uns" Subjekte anblickt, einrahmt und verzeichnet.

Für jede Diskussion einer gegenwärtigen künstlerischen Produktion sind die Verschiebungen und Zerstreuungen im Gefüge von Bild-Schirm(en), Blick- und Repräsentationsverhältnissen sowie Disziplinierung und Kontrolle massgebend.

"Phänomenologisch ist das allgegenwärtige (...) Feld der Medien fragmentarisch und heterogen: ein Kontinuum von sich beständig verändernden kaleidoskopischen Bildmustern, die unausgesetzt das 'kollektive Vorbewußte' prägen und unausgesetzt mit individuellen unbewußten Projektionen ausgekleidet werden. Mit ihren räumlichen und zeitlichen Verdichtungen und Verschiebungen, ihren Selbstzitaten und schnellen und zufälligen Veränderungen von idealen, weltlichen und gewaltsamen Bildern ähnelt diese imaginäre Umgebung zunehemnd den inneren Räumen der nach außen gekehrten subjektiven Phantasie (...). Heute ist (auch) der Körper in Teilen im tele-topologischen Puzzle der Medien verstreut. (...) Die Szenen der Identität sind heute unentwirrbar mit den neuen Technologien des Bildes verknüpft."
Victor Burgin, Das Bild in Teilen, 1996

Das Auge kommt nicht mehr mit. Die Dezentrierung des Subjekts im Rahmen dieser Bild-/Blickverhältnisse bestimmt wesentlich jede Formation von Wahrnehmung und Rezeption, die im Rahmen künstlerischer Projekte herstellbar ist, kommuniziert und kontextualisiert werden kann. Jede Bild-, Objekt- und Installationsform partizipiert an der beschriebenen Energetisierung und Metamorphotisierung von visuellen, kommunikativen - semantischen - Systemen. Ein hierarchisches Blickverhältnis, das immer auch ein hierarchisches Verhältnis der Signifizierung und Produktion von Bedeutung und Sinn impliziert, ist schlichtweg nicht mehr praktikabel. Die Technologisierung und Informatisierung von Bildern und Objekten überführt diese ins Stadium ihrer Mediatisierung. Blickverhältnisse sind heute Medienverhältnisse. Damit ist nicht postuliert, dass der Fortgang kultureller Entwicklungsprozesse vollständig auf Medienmaschinen übergegangen wäre. Es bedeutet aber, dass diese Entwicklungsprozesse nurmehr im Austausch mit solchen Medienmaschinen und -systemen stattfinden können. Es bedeutet vor allem auch, "dass Fakten und Bedeutungen weder vorzufinden noch vorauszusetzen sind, sondern diskursiv produziert, interpretiert und modifiziert werden" (Stefan Germer) müssen. Wenn sich die Bild-Schirme im Fluss befinden heißt Bedeutung erzeugen, Pfade durch diese Fluktuationen zu legen, Navigationsstrategien zu entwerfen und zur Kenntlichkeit zu bringen. "Artefakte für den Mediengebrauch und mediale Bezeichnungspraxis stehen in einem engen Wechselverhältnis. Kommunikate verweisen auf die Formen und Strukturen, in denen ihre Benutzung stattfindet und umgekehrt: In den apparativen Anordnungen sind Ästhetik und Dramaturgie abgelegt und wiederauffindbar. In dieser Interdependenz wirkt immer wieder auch ein historisches Nacheinander: Neue Medienmaschinen künden von neuen Bezeichnungspraxen." (Siegfried Zielinksi)

Auf solche neue Bezeichnungspraxen richtet sich ein Ausstellungsprojekt wie "Die Desorientierung des Blicks". In diesen neuartigen Bezeichnungspraxen liegen schliesslich auch die Potentiale einer konstruktiven und re-konstruktiven Verarbeitung der skizzierten Symptome der Zerstreuung, Disloziierung und Multiperspektivierung. Das Verschwinden der "großen Erzählungen" öffnet zahllose Pfade und Routen für (vorübergehende) Neuformierungen von Geschichten, von Texturen, Topologien, offenen Handlungsfeldern, heterogenen Strukturen, der Inszenierung von Brüchen und Falten. Kurz gesagt: von Rissen im allgegenwärtigen Bild-Schirm, in den allgegenwärtigen Bild-Schirmen, im "orbitalen Horizont des Imaginären", wie es Dietmar Kamper bezeichnet hat, und nicht zuletzt in hegemonial organisierten Diskurssystemen und -praktiken. Es sind diese Risse, die es dem Subjekt möglicherweise erlauben, von sich zu erzählen, einen subjektiven Blick zu entwerfen, dem Blick der Medien einen eigenen Blick entgegenzuhalten und für kurze Zeit der eigenen Zerstreuung entgegenzuarbeiten. Dieser Blick könnte darüberhinaus zu einem Vehikel zur Produktion eines Subjekts werden (das ja bei dieser Zerstreuung wesentlich auf dem Spiel steht), könnte Bilder erzeugen, die vom Selbst erzählen, wie es in das Gedächtnis der Medien eingeschrieben ist und quasi nurmehr dort aufgefunden werden kann, in einer Durchquerung der Bilder selbst. Allerdings errichten diese Bilder keinen Ort der Ruhe und Stabilität für das Subjekt, sondern umschreiben diesen "Ort" als ständig umkämpfte und zirkulierende Oberfläche, als ständig neu zu formierende und konstruierende Repräsentation. Die folgenreichste Konsequenz der Phänomene der Zerstreuung und Entfremdung bestehen darin, dass sich das Individuum in diesen schwankenden Erscheinungen einzunisten hat, sich nicht in den Bildern wiederfinden kann sondern sie zu einem Vehikel für die ständige Produktion eines Selbst zu instrumentalisieren. Wir werden sehen ...




© Reinhard Braun 2000

erschienen in:
Die Desorientierung des Blicks, Ausstellungskatalog, Museum "De Beyerd", Breda/NL, März - April 2000



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