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Texte


Reinhard Braun
Auto-Bahnen.
Von der Beschleunigung der Objekte zur Befreiung des Subjekts.

"Da es dem König nur wenig gefiel, daß sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend, sich querfeldein herumtrieb, um sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, schenkte er ihm Wagen und Pferd. 'Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen', waren seine Worte. 'Nun darfst du es nicht mehr', war deren Sinn. 'Nun kannst du es nicht mehr', deren Wirkung."1

"Von der 'Bewaffnung' des Fotoapparates bis zum 'bewaffneten Auge' des Reporters oder Soldaten und zur Video-Überwachung zu polizeilichen Zwecken richtet das Objektiv den Blick des Menschen allein deshalb mit Macht auf die Lebewesen und Dinge, weil die technischen Neuerungen es möglich machen, wie Wisemann sagt. 'Seitdem ich eine Kamera besaß', (...), 'interessierte ich mich überhaupt nicht mehr dafür, mit Menschen zusammenzusein oder unter ihnen zu leben, ohne sie zu filmen ...'."2

Die Autobahn: eine wirksame Metapher?
Sie hat jedenfalls den technischen Neuerungen der motorisierten Fortbewegung buchstäblich eine Bahn bereitet, weil die technischen Neuerungen es nicht nur möglich, sondern "notwendig" machten. Die Autobahn ist manifeste Form der immanenten Dynamik technischer Mediensysteme. Sie beschriftet als Vektor der Motorisierung die Oberfläche der Welt: eine Inschrift mechanischer Kulturtechniken der Geschwindigkeit, der Selbst-Beschleunigung. Zugleich Signatur, Oberfläche und Medium, ein Transformator - das Produkt einer Systematisierung von Bewegungsströmen, ein Mediensystem, weil es die in der Maschine präformierten Apperzeptionsformen entfaltet und dadurch eine grundlegend veränderte Zugangsweise zu Wirklichkeit einführt. Durch diese Interzeption in das Verhältnis von Subjekt und Umwelt werden "Erfahrungen maßgebend, die die technische Organisation der kollektiven Physis revolutionieren"3. 'Nun kannst du nicht mehr zu Fuß gehen', beschreibt diese Neuformierung der kollektiven Physis, die dadurch zugleich an die hervorgebrachten Prothesen als auch an die von diesen produzierten "Weltbilder" angeschlossen wird.

Die Autobahn leitet also nicht nur bzw. nicht einmal primär die Bewegung der Vehikel, ihre Geschwindigkeit, sie führt auch und vor allem die Wahrnehmung des Subjekts auf ihrer Bahn, den Blick der Insassen: an der Welt entlang (nicht in sie hinein und nicht durch sie hindurch). Der Autobahn zu folgen heißt demnach weniger, die Welt zu durchqueren, als entlang einer Schnittstelle die Welt abzutasten, ein Interface, das permanent einen Strom von (visuellen) Daten über die Welt produziert und organisiert - eine Kamera, in deren Inneren das Subjekt von der Welt durch eine Scheibe wie ein Objektiv getrennt an dieser vorbeigleitet, eine Kamera, weil die Welt dabei nicht mehr erlebbar, sondern nur mehr sichtbar ist: das Automobil schon verwandelt die Welt in ein ästhetisches Phänomen. Jede Autobahnfahrt produziert einen Film, ist Film. Als automatische Bahnung an der Welt entlang, die jetzt kein Hindernis mehr darstellt, obwohl oder gerade weil kein Zugriff mehr auf sie möglich ist, ist die Autobahn Metapher für die kulturelle Produktion von Weltbeschreibung, die Herstellung einer Transparenz der Welt, ihrer Sichtbarkeit, weil es technisch möglich ist. Autobahnen sind eine Schrift jener technischen Möglichkeit, eine Schrift, entlang der das Reale kontinuierlich und unauflöslich entblößt und in ein Modell umgewandelt wird - es ist buchstäblich "nicht mehr an seinem Platz" bzw. ermöglichen es gerade die Medien (unter ihnen das Atomobil bzw. die Autobahn), daß das Reale an seinem Platz bleiben kann, weil es aus der Ordnung der Medien herausfällt, das "Andere" bleibt, das von den Medien nicht berührt wird (und das Subjekt fällt dabei auf die Seite des Mediums, nicht auf die Seite der Welt). "Erst wenn etwas 'im Reelen [wie Kittler den Lacanschen Begriff des Realen übersetzt] und unabhängig von jeder Subjektivität funktioniert', gibt es Medien"4.

Unabhängig, das heißt, die Funktionalität der Medien zu beschreiben: die Trennung von Information und Kommunikation, die Trennung von Nachricht und Information, der Information von ihrem Ort und ihrem Träger - Medien sind Distanzmaschinen. Das in seinem Automobil eingefaßte Subjekt antizipiert diese Trennung von Ereignis und Kontext, von Subjekt und Geschichte, indem es sich in und mit einem Nicht-Ort auf die Reise begibt, am Realen vorbei in der Welt des Symbolischen, die eine Welt der Telemedien ist, und: alle Medien sind Telemedien.

"Medien sind keine Träger von kulturellen oder ideologischen Werten. Sie transportieren keine Botschaften von A nach B, sondern bilden eine eigene, parallele Welt, die die klassische Realität nie streift."5 Die Auto-Bahnen skizzieren solche Wege parallel zur (klassischen) Realität: eine erste Metapher des befreiten Subjekts als Parasit des beschleunigten Objekts. Wenn das Symbolische Platztausch selber ist, dann übt sich das Subjekt in seinem Automobil in der Besiedelung des Symbolischen ein, tauscht es für den Rausch einer Autobahnfahrt sozusagen seinen ontologischen gegen einen symbolischen Ort, wechselt in eine Halluzination durch Geschwindigkeit, die bekanntlich immer höher werden kann, je weniger Masse ein Objekt besitzt: zurück bleibt der Körper. In dieser Fiktion ist es schlicht nicht mehr notwendig, das Andere zu erfahren - das (mediale, und das ist: das symbolische) Bild genügt. Wie im Film werden die Welt und damit die Anderen ins Symbolische der Medienmaschinen gerettet, worin sich die Zukunft jenseits des Horizonts der beschleunigten Objekte wie der Körper ereignet, weswegen beide diesem Horizont so schnell entgegeneilen: die reine Information ist das Ziel, ohne Materie (nicht ganz, aber doch ohne wahrnehmbare Objete) wirksam zu sein (eine Sehnsucht, die bereits die Schrift annähernd eingelöst hat, weswegen es auch legitim erscheint, von der Autobahn als einer Beschriftung zu sprechen; beide haben jedoch den entscheidenden Nachteil, ontologisch fixiert zu sein: hier der unauslöschliche Träger der Schrift, hier das unausweichlich maschinenhafte Vehikel: dort jedoch, als Perspektive auch der beschleunigten Fortbewegung, das Reich der Zeichen in einer Maschine, die keine mehr ist, die keine Gelenke bewegt oder Räder antreibt, sondern buchstäblich Symbole manipuliert). Der Platz im Automobil ist eine Präfiguration dieser Transgression, dieser Rettung ins Symbolische der (Von Neumann-) Maschine, die immer im Symbolischen operiert und damit die Befreiung vom Signifikat (der Körper) prinzipiell, d. h. als ein Prinzip, permanent realisiert. Nicht ohne Grund ist das Verhalten der Menschen in Science-Fiction-Filmen oftmals das von Automaten: sie haben den endgültigen Platztausch vollzogen, der sie zu Objekten der Maschine werden ließ: zu ihrem Servomotor sozusagen. Es interessiert sie überhaupt nicht mehr, mit Menschen zusammenzusein oder unter ihnen zu leben, ohne sie zugleich als Effekt ihrer Medien zu erfahren.

"Alle Medien sind mit ihrem Vermögen, Erfahrung in neue Formen zu übertragen, wirksame Metaphern."6 Die Form der Weltwahrnehmung auf der / durch die Autobahn liefert keine Aufzeichnung, sondern reine Gegenwärtigkeit, ein Live-Bild: "Das direkt übertragene Bild ist ein Filter, nicht wegen seiner Räumlichkeit oder durch den Bildschirm der vorgegebenen Einstellungen, sondern in erster Linie durch seine Zeitlichkeit: einem monochromen Filter, der nur das Gegenwärtige durchläßt. Ohne (...) eine Kritik des Fernsehens zu leisten, kann man sagen, daß wir es hier mit einer videoskopischen Technik zu tun haben, mit einer Logistik der Wahrnehmung, die die Voraussetzung ist für die fortschreitende Erfassung der nervösen Zielscheiben, zu denen wir geworden sind."7 Die Autobahn als Videoskop produziert solche Live-Bilder, die eine Form der reinen Gegenwärtigkeit darstellen: die Reise ist ohne Ort, ohne definitive Koordinaten - der Mythos der Reise ist die Freiheit, die Form der (automobilen) Reise ist visuell, koppelt sich dadurch mühelos an all jene Mythen, die die anderen visuellen Medien produzieren.

"Mit dem Erwerb meines Tonbandes ging das, was ich an Gefühlsleben gehabt haben mag, endgültig zu Ende, und ich war froh darüber. Nichts ist jemals wieder zu einem Problem geworden, weil ein Problem jetzt immer nur ein gutes Tonband war, und sobald sich ein Problem in ein gutes Tonband verwandelt, ist es kein Problem mehr."8 Hier spricht die Distanzmaschine Medium: es befreit vom Realen (und damit von einer Form des Selbst), indem sie es zu einem Produkt seiner Immanenz macht. Auf der Autobahn erlebt das Subjekt eine Form der Befreiung vom Körper in der Einführung eines zweiten meta-physischen Körpers: das technoide Ding, die schnelle Kapsel, ein mechanistisches Etui, das es umschließt, abschließt, einfaßt. Das automotorische Vehikel als postnataler Uterus und präfigurierter Datenanzug in einem - die Gestalt des Traums und der Traumata der Futuristen, die schwärmerisch die Synthese von stählernem Vehikel, elektrischer Steuerung und desubjektiviertem Körper propagierten, scheint sich auf der Autobahn, die sie zum Zeitpunkt ihrer Manifeste noch nicht kannten, also längst realisiert zu haben.

"Fortan sind Sie, und zwar unendlich mehr, als Sie denken können, Subjekte von Gadgets oder Instrumenten, die (...) die Elemente Ihres Daseins werden."9 Objektiviert zu werden (sich in das technoide Ding zu begeben) heißt, sich seiner Subjektivität zu entledigen, eine Form der Befreiung zu vollziehen. Der Rausch der Autobahn leistet beides: er entkoppelt vom Realen (das nur als Unfall zurückkehrt: der radikale Effekt der Geschwindigkeit zeigt sich logisch als Auflösung der Masse, d. h. des Körpers) und damit befreit er das Subjekt davon, ALS Subjekt zu agieren. Die Distanzmaschine Medium richtet sich also nicht nur nach außen, sondern auch nach innen, gegen bzw. zwischen das Subjekt selbst: 'Du kannst nicht mehr zu Fuß gehen' heißt demnach auch: du kannst (brauchst?) die Welt nicht mehr als Subjekt zu erleben - weil die technischen Medien es möglich machen; und das heißt wiederum: Medien produzieren das begehrliche Projekt der Befreiung vom Selbst.

Das Automobil auf der Autobahn präfiguriert jene Medienmaschinen, die virtuelle Welten anders produzieren, ist bereits das Vorbild für jenes zerebrale, d. h. körperlose Modell des Menschen, wie es durch die Digitalisierung und damit Symbolisierung der Medien skizziert wird: »Let me now confess the reason why I fell for artificial life. Just before I die I would like to be able to copy much of my knowledge, my intelligense, my entire consciousness onto a computer and thus be able to live inside the chips.«10 - Die Utopien der Unsterblichkeit haben den Körper als begehrenswerten Sitz dieser Unsterblichkeit hinter sich gelassen und richten sich jetzt auf und in die Sphäre der digitalen Systeme, die sich allein am Bewußtsein, d. h. am Modell des Symbolischen orientieren. Im Einstieg ins Automobil vollzieht das Subjekt jedoch bereits eine erste (mechanische) Form dieser Transgression in die Sphäre der Mediensysteme, die zugleich eine Form des Ausstiegs des Subjekts aus seinen körperlichen Fixierungen darstellt und einen Schritt in eine Ordnung hinter dem Subjekt, hinter den Objekten, der Sprache, in eine Ordnung, die dem Subjekt verspricht, jenseits des Körpers zu agieren, jeden Ort der Erde und noch darüber hinaus erreichen zu können - ohne sich noch jemals selbst von der Stelle zu bewegen (d. h. ohne selbst noch ein Vehikel zu benötigen).

Wenn es bereits ein Gemeinplatz ist, daß das gegenwärtige Individuum konstitutiv gespalten ist, dann verschärft die Tele-Technologie (und damit die Auto-Bahn als eine frühe Schrift dieser Tele-Technologie) diese Spaltung, indem sie dem Subjekt die Möglichkeiten gibt, sich partiell zu entäußern und über und durch diese Entäußerung an das Objekt, das Ding, Wunschphantasien zu realisieren, die es als Subjekt (zumindest buchstäblich) nicht realisieren kann. Dermaßen vom Ding, vom Automat, der Maschine absorbiert ist das Subjekt kein verschlungener Ort mehr, an dem sich Wahrnehmung, Erfahrung, Erkenntnis, Sexualität usw. ereignen, sondern ein von der Maschine addressierter Ort, an dem sich das Subjekt gewissermaßen neben dem Raum wie neben dem eigenen Körper auf der Stelle bewegt - und sich von diesem zu befreien beginnt.

1 Günther Anders, Kindergeschichten, 1956, S. 97, zit. n.: Sven Bormann, Virtuelle Realität. Genese und Evaluation, Bonn 1994.
2 Paul Virilio, Die Eroberung des Körpers, München-Wien 1994, S. 17.
3 Norbert Bolz, "Die Schrift des Films", in: F. Kittler, M. Schneider, S. Weber (Hg.), Diskursanalysen 1: Medien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1987, S. 26-34, S. 28.
4 Friedrich Kittler, Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, S. 77.
5 Agentur Bilwet, Medien-Archiv, S. 14.
6 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden-Basel 1994, S. 97.
7 Paul Virilio, Krieg und Fernsehen, München-Wien 1993, S. 15.
8 Andy Warhol, Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück, München 1991, S. 35.
9 Jacques Lacan, zit. n. Friedrich Kittler, Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 15.
10 Larry Yeager im Programmfolder zur "Ars Electronica 1993" als Abstract zu seinem Vortrag im Rahmen des Symposions zum Thema "Die Lust auf Unsterblichkeit, Kloning und Kosmetik", 16.6.1993, Brucknerhaus Linz.
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© Reinhard Braun 1995

erschienen in:
Walter Pamminger, PRINZGAU/podgorschek, Marc Ries (Hg.), AutoBahn und Medien, Assoziierte Produzenten der PVS Verleger, Wien 1995



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