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Featuring
¬ Christian Hasucha

Reinhard Braun
Christian Hasucha: Dortmund 1994

1 Öffentliche Intervention "Wege", Projekt Nr. 20

"Die Spiele der Schritte sind Gestaltungen von Räumen. Sie weben die Grundstruktur von Orten.1
"(...) vom Standpunkt des Umherschweifens aus haben die Städte ein psychogeografisches Bodenprofil mit beständigen Strömen, festen Punkten und Strudeln (...)."
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Die öffentliche Intervention "Wege" von Christian Hasucha, auf Einladung des Dortmunder Kunstvereins realisiert, ist ein weiteres Projekt im Rahmen einer seit 1981 betriebenen Strategie zwischen Kunst und Öffentlichkeit. Das Feld der Skulptur und Plastik verlassend und mit der Einführung des Begriffs "Intervention" sich auch gezielt vom Bereich der Installation absetzend, arbeitet Hasucha seitdem in zumindest zwei Richtungen: einerseits reagiert seine Arbeit analytisch auf Strukturen des Kunstbetriebes und seiner Kontexte (Museum, Galerie, Ausstellungsraum, Kunstobjekt), andererseits zielt sie auf einen Begriff der vor allem urbanen Öffentlichkeit, der den Öffentlichkeitsaspekt von Kunst überschreitet, über die Mechanismen und Automatismen hinausweist, denen Kunst begegnet, wenn sie ihre Räume bzw. jene, die sie um sich herum gebildet hat, verläßt. Was dabei in den Blick gerät, ist vor allem das (in die Öffentlichkeit gesetzte) Verhältnis von Werk und Rezipient, besonders, wenn beide jenseits ihrer konventionellen Rollen agieren, wenn sowohl das Werk wie der Rezipient nicht ohne weiteres benannt werden können. Christina Hasucha operiert damit an einer Grenzlinie, an der sich wohldefinierte Begriffe des Kunstkontextes und der Kunstkritik in Bewegung befinden, und Eingriffe in Erscheinungsbild, Strukturzusammenhänge und Mechanismen des urbanen Alltags "konstruktives Befremden" (Christian Hasucha) auslösen. Dieser Bewegung der Komponenten des Alltäglichen, dem In-Bewegung-Setzen von Verhältnissen, gilt das besondere Interesse, Komponenten, die durch gezielt inszenierte Situationen und Ereignisse der "öffentlichen Interventionen" plötzlich anders wahrnehmbar und beurteilbar werden. Diese Bewgung ist es aber auch, die einen besonderen Effekt zur Folge hat, nämlich ihren Gegenstand (der urbane Alltag) quasi von der Seite zu beleuchten und sie von dort aus neu und anders zu konturieren. "Das Detail eines Bildes, das, 'von vorne' gesehen, d. h. von einem exakt frontalen Blickpunkt aus, als verschwommener Fleck erscheint, nimmt klar und unterscheidbare Formen an, wenn wir es von der Seite her, 'schräg' betrachten."3 Das bedeutet in gewissem Sinn, einer Verschiebung der Wahrnehmung zu folgen, einer Verschiebung, die dem Resultat und dem Interesse der Projekte von Christian Hasucha entspricht.

Durch seine öffentlichen Interventionen, die somit nicht als skulpturale Eingriffe im engeren Sinn zu verstehen und mißzuverstehen sind, erzeugt er immer wieder solche Verschiebungen in der Erscheinung von (vor allem urbanen) Orten, minimale Verschiebungen, die sich am Rande ereignen, quasi vom Rand her operieren und die Alltäglichkeit eines solchen Ortes zwar irritieren, aber nicht völlig aufheben. Die marginalen Eingriffe und Hinzufügungen verhindern gerade noch den alltäglichen und großteils unbewußten "Gebrauch", der vom Stadtraum bzw. einem besonderen Ort gemacht wird, ohne ihn vollständig auszuschalten. Die Projekte implementieren einen Widerspruch am und im Ort und schaffen einen (Bedeutungs-) Raum, der gewissermaßen irritierend und befremdend quer liegt zum Stadtraum, ein Widerspruch, der quasi den Charakter einer Grenze, einer Grenzziehung hat, an der sich der Gebrauch sozusagen zuspitzt und "abbilden" läßt: etwas wird sichtbar, das bisher nicht wahrgenommen wurde (oder werden konnte). Die Interventionen erzeugen durch ihren Gestus der Inszenierung ein eigenes (Epi-) Zentrum (der Bedeutungsveränderung), die aber immer auf die Situation rückgebunden bleibt und nur vor dem Hintergrund einer Überlagerung mit dem Raum verständlich ist, an dem die Inszenierung operiert. Die Irritation ist immer die Irritation von etwas, auf bzw. gegen das sie sich richtet - und Christian Hasucha zielt letztlich darauf, etwas vom Unbewußten der Stadt, ihrer ständig ablaufenden und sich wiederholenden Bewegungs- und Handlungsmuster an einem bestimmten Ort stillzustellen, zu unterbrechen, damit dort etwas anderes als Überlagerung Platz greifen kann, ein anderes Handeln, Bewegen, schließlich ein anderes Denken über den (städtischen) Raum und die komplexe Rolle des Individuums darin. Diese Eingriffe in die Struktur von Orten erscheinen solcherart weniger als Formen von Kunst, sondern vielmehr selbst gezielte "urbane Praktiken" darzustellen - eine Methodik, die darauf abzielt, Situationen zu erzeugen, die die Möglichkeiten einer freigesetzen und freien, d. h. persönlichen Interaktion mit dem Urbanen ermöglichen. Die künstlerische Strategie bildet dafür nur die notwendige konzeptuelle und organisatorische Nahtstelle. "Erst wenn subtil und ambivalent agiert und ausgeführt wird, kann sie als künstlerisches Modell überzeugen" (Christian Hasucha).

Die öffentliche Intervention "Wege" richtet sich demnach vor allem an eine Form der Alltäglichkeit der Dortmunder Stadtbevölkerung. Christian Hasucha läßt Initialbriefe verteilen, die das Projekt beschreiben und zur Teilnahme auffordern: bis zu hundert Personen können aus einem beliebigen Weg, den sie jeweils etwa auf dem täglichen Weg in die Arbeit, in die Schule oder zum Einkaufen zurückgelegen, oder aber gerne zum unregelmäßigen Flanieren und Bummeln einschlagen, eine Strecke an einem beliebigen Ort auswählen und die Angaben über die Lage dieser Strecke von etwa 20 Schritten auf dem Antwortbrief eintragen und zurücksenden. Christian Hasucha markiert dann nach diesen Angaben das Stück Weg an den Endpunkten (es entsteht also keine durchgehende Linie) und versieht es mit einer fortlaufenden Nummer. Diese Nummer, die Lage der Wegstrecke und der Name der Person, die diese Strecke ausgewählt hat, werden auf Plakaten in der Stadt veröffentlicht.

Die Plakate bilden das einzige Medium der Dokumentation für die Öffentlichkeit, die davon ausgehend die Arbeit sozusagen rekonstruieren kann. Es können gezielt bestimmte Strecken aufgesucht und auch bestimmten Personen zugeordnet werden. Darüberhinaus gibt es keine öffentlichen Erklärungen zu diesem Projekt mit Ausnahme eines Kataloges, auch der Initialbrief spricht nur davon, daß die öffentlichen Interventionen "in exemplarischer Weise das Verhältnis zwischen Alltagsgeschehen und künstlerischem Eingriff" behandeln und "ein poetisches Pendant zu den üblichen Straßenmarkierungen" entsteht, das allerdings nach einigen Wochen wieder verblassen und in der Unsichtbarkeit versinken wird. Es handelt sich also um ein zeitlich eingegrenztes Projekt, dessen Dauer zwar nicht vorhergesagt werden kann und die für verschiedene Markierungen auch recht unterschiedlich sein wird, das aber in keinem Fall einen dauerhaften Eingriff in die "Oberflächen" der Stadt darstellt, diese damit weiterhin hauptsächlich dem Verkehr und der Ware, d. h. dem Konsum vorbehalten bleiben. Bilden diese Markierungen im Stadtraum den Ausgangspunkt, so initiieren sie eine mögliche Kommunikation nicht über die Markierungen selbst, sondern über ein Verhalten in der Stadt, das einen Gebrauch anzeigt, das ein Bewohnen und ein Leben in der Stadt in gewisser Weise beschreibt. Diese Wegstrecken, ihre zufällige Verteilung über den Stadtraum dokumentieren die permanenten Bewegungen von Fußgängern, "deren Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen 'Textes' folgen, den sie schreiben, ohne ihn lesen zu können."4 Ihre Bedeutung liegt also augenscheinlich nicht in ihrer Form und auch nicht in ihren spezifischen Anordnungen und ihrer Verteilung, sondern darin, was diese Anordnungen und die Verteilung über jene "Beschriftung" der Stadt durch die Individuen aussagen. Es wird also neuerlich deutlich, daß die öffentlichen Interventionen durchwegs auf der Ebene dessen agieren, das sie in Gang setzen, was sie beschreiben und anzeigen und nicht durch das, was sie an Objekten und/oder Zeichen herstellen und dem Stadtraum einfügen.

Die Intervention "Wege" dynamisiert also das Verhältnis von Individuum und Stadtraum. Die Teilnehmer werden durch das Projekt in die Lage versetzt, in den urbanen Raum zu intervenieren, flüchtige Einschreibungen, Inschriften in diesem zu hinterlassen. Das Projekt bildet letztlich nur das Medium dieser Einschreibungen. Die Teilnehmer können den Text, den sie in ihrer Bewegung durch die Stadt schreiben, an einer bestimmten Stelle manifest werden lassen, eine Spur erzeugen, die gleichzeitig etwas vom städtischen Schriftbild enthält, nach dem sich das Individuum immer schon auf seinem Weg durch die Stadt orientiert. Dieser persönliche "Text", vielmehr ein Sub-Text, der als je persönliches "Schriftbild" über den Text bzw. die Textur der Stadtgelegt wird, kann jetzt Gegenstand einer Kommunikation werden, die sich gerade um die Fortbewegung dreht, die diese Bewegung als eine Form der permanenten, aber flüchtigen Besetzung und Aneignung der Stadt versteht. Das Alltägliche wird aus der Unsichtbarkeit und Nicht-Mitteilbarkeit gehoben und möglicher Gegenstand einer Reflexion (nicht bzw. vor allem nicht im Hinblick auf das Projekt als künstlerisches Ereignis, sondern vielmehr durch die Bewohner selbst, indem sie auf die Markierungen in unterschiedlicher Weise reagieren. Zur Disposition stehen also die Vorlieben, einen bestimmten Weg zu wählen, die städtischen Anziehungspunkte oder Wüsten, die den Gang lenken, d. h. die städtischen Strukturen selbst als Ordnungssystem der Alltäglichkeit geraten über den Modus ihres "Gebrauchs", der plötzlich sichtbar wird, in den Blick. Insofern dokumentieren die Wegmarken bereits eine Form der Interaktion mit der Stadt, die normalerweise hinter der Alltäglichkeit dieser Interaktion verborgen bleiben.
Es liegt eine Fremdheit, eine Unzugänglichkeit im Alltäglichen, die darin besteht, daß es keine "Oberfläche" hat, auf dem es zur Erscheinung gebracht werden kann, auf der sich die zahhlosen Praktiken und Handlungen des Alltags abzeichnen würden. (Was als populäre Kultur bezeichnet wird, ist nur eine Formalisierung und Ritualisierung eines Teils dieser Unsichtbarkeit des Alltags.) Das Alltägliche erscheint in diesem Sinn der Nicht-Sichtbarkeit als eine Handlung, die eine Grenze darstellt, eine permanente Grenzziehung vor dem Hintergrund einer Unsichtbarkeit: der Bewohner als Fußgänger zieht permanent seine Grenze zwischen Anwesenheit und Verschwinden, seine Grenzziehung ist jener unausgesetzte Sub-Text des Urbanen (und auch der Geschichte). Und diese Grenzziehung kennt nur die Gegenwart. "Das Gehen kann somit fürs erste wie folgt definiert werden: es ist der Raum der Äußerung."5 Eine Äußerung allerdings, die sich in eine Leere artikuliert, und diese Leere, dieser Raum ohne signifikante kulturelle Beschriftung ist der Alltag. Wir bewegen uns zwar alle in ähnlicher Form durch die Stadt, Die Sichtbarkeit, die durch das Projekt plötzlich von vordergründig automatisierten Situationen und Abläufen entsteht, stellt diese plötzlich in einen ganz anderen Zusammenhang zu dem, was asl Alltag zurückbleibt. Indem Christian Hasucha die städtische Fortbewegung zu Fuß als solch einen Raum der Äußerung definiert, gibt er ihm sozusagen einen Text.

Die Markierung von Wegstrecken erzeugt somit eine Form der Signatur und verweist immer auf jenes Abwesende, das bereits geschehen ist, ohne sich zu dokumentieren: ein bestimmter Weg durch die Stadt wurde genommen. Die Markierungen selbst dürfen deshalb aber nicht als vordergründige Strukturierung oder Visualisierung dieser Handlung gelesen werden: zum einen, weil sie einer bestimmten Beliebigkeit unterworfen sind (was den Modus der Auswahl, oder besser: der Angebote, betrifft, die schließlich zu jenen Markierungen und ihrer Verteilung im Stadtraum führen), und zum anderen, weil sie bloß von einem Akt erzählen, dem sie auf der Spur sind, ohne ihn zu repräsentieren oder zu interpretieren. Die Markierungen funktionieren eher wie ein Zeichen, wie ein Begriff, der lediglich auf etwas verweisen, auf etwas hinweisen kann, das woanders geschieht oder geschehen ist. Im Mittelpunkt steht schließlich jene Praxis selbst (die Fortbewegung in der und durch die Stadt), die lediglich fragmentarisch in eine Form der Lesbarkeit, besser: der Rekonstruierbarkeit, überführt wird. Indem hier von einer Grenzziehung die Rede war, läßt sich die Bewegung durch die Stadt, das Gehen, sei es zielorientiert oder ein Herumschweifen und flanieren, auch als eine Praktik kennzeichnen, die zugleich von einem Ort ausgeht und einen Raum produziert: das Gehen erzeugt fortwährend einen solchen Raum entlang des Weges, an dem es sich erstreckt und ausbreitet - Ansichten, Umgehungen, Treffpunkte, Gespräche, Beobachtungen. Die Wegmarken, die Christian Hasucha anlegt, sind auch Symbolisierungen dieser Räume, dieser durch zahllose Gewohnheiten, Wendungen, Entscheidungen, Lockungen (der Ware) und Zufälle produzierten Räume und Orte, die an dem Punkt wieder verschwinden, an dem sie konstruiert, d. h. erlebt werden. Die Markierungen heben für ein kurzes Stück jene Grenzlinie hervor, entlang der sich ein Subjekt seine persönlichen Räume des und innerhalb des Urbanen entwirft.

Den Räumen, die solcherart in die Stadt projiziert werden, ist Christian Hasucha auf der Spur. Sie verweisen auf die Stadt als Objekt, mit dem etwas getan wird, der benützt wird. Insofern lassen sich die Markierungen der Abschnitte, die verschiedene Personen nach vielfältigen Kriterien zurückgelegt haben, auch erst als Schriftzeichen lesen, die die Beschriftung der Stadt durch die Personen zur Sichtbarkeit bringt: die Gesamtheit der Markierungen ergibt eine spezifische (kollektive) Lektüre der Stadt. Der Umgang mit dem Ort, die Entwicklung von Räumen wird buchstäblich zu einem Zeichensystem, das die Stadt überzieht - und das selbst wieder verschwindet und sich der Unsichtbarkeit dieser unausgesetzen Praktiken angleicht. Ein Alltägliches wird aus der Unsichtbarkeit und Nicht-Mitteilbarkeit gehoben und Gegenstand einer Reflexion und Äußerungsform des Individuums im Alltag, die es selbst kaum als solche wahrnimmt.
Es treffen hier auch zwei Raumkonzepte aufeinander: jener strukturierte, stabile Raum der Stadt, der einer Ordnung entspringt und permanent Ordnung produziert, und jener strukturierende, fluktuierende, flüchtige und instabile des Individuums, der nur als eine Praktik in Erscheinung tritt, die einen Raum permanent produziert, während das Urbane sozusagen als Bedingung dieser Praktik vorausgeht, durch sie allerdings erst aktualisiert wird. Durch und mit den Markierungen der öffentlichen Intervention "Wege" tritt also ein komplexes Verhältnis von Stadt und Bewohner zu Tage. In einer urbanen Gegenwart, in der die Mobilität der Bilder, der Zeichen, der (Waren-) Symbole etc. zunehmend die physische Mobilität ersetzt bzw. annektiert hat, produziert ein derartiges Projekt wieder eine Form der Präsenz dieser metabolischen Komponente des Urbanen, d. h. eine Form der Präsenz für des Subjekt gegenüber dem allgegenwärtigen Zeichensystemen der Stadt. Diese Form der Präsenz ist es, auf die die Aneignung, die das Projekt ermöglicht, letztlich abzielt.

2 Öffentliche Intervention "P", Projekt Nr. 16

"Die Gliederung des Raumes ermöglicht eine 'panoptische Praktik' ausgehend von einem 'eigenem' Ort, von dem aus der Blick die fremden Kräfte in Objekte verwandelt, die man beobachten, vermessen, kontrollieren und somit seiner eigenen Sichtweise 'einverleiben' kann."6

Parallel zur "Öffentlichen Intervention 'Wege'" ist in den Räumen des Kunstvereins eine Arbeit zu sehen, die auf eine Serien von öffentlichen Interventionen zurückgeht, die bis jetzt in Köln (1993) und in Heilbronn und Graz (1994) realisiert wurde. Die "Öffentliche Intervention 'P'", durchgeführt in Graz im Rahmen der Ausstellung "Translokation. Der ver-rückte Ort. Kunst zwischen Architektur" richtet sich wiederum auf den Aspekt einer möglichen (begrenzten) Aneignung von städtischen Orten durch die Teilnehmer des Projekts. Ebenso in Beantwortung eines Initialbriefes konnten sich beliebige Personen Orte auswählen, an denen sie eine Plattform, die in dem Brief beschrieben ist, errichtet haben mochten. Diese Plattformen wurden von Christian Hasucha montiert und verblieben dort eine bestimmte Zeit lang zur freien Verfügung der Personen. Die Präsentation des Grazer Projekts im Kunstverein Dortmund besteht jeweils aus einer Fotoleinwand, die den Blick von der jeweiligen Plattform zeigt, einem Hinweis auf den vorübergehenden Eigentümer sowie die Plattform selbst, die noch die Spuren ihrer Benützung zeigt. Auch an dieser Konstellation zeigt sich neuerlich, daß Christian Hasucha daran interessiert ist, was von der Plattform aus geschieht und weniger daran, den Ort ihrer Aufstellung zu zeigen und damit die Plattform selbst zu dokumentieren.

Die nach den Wünschen der Teilnehmer im Stadtraum montierten Plattformen stellen zunächst einen Punkt dar, an den sich eine Person begeben und von dem aus sie in beliebiger Weise agieren kann. Zugrunde liegt dieser Arbeit damit der prinzipielle Akt einer Differenzierung und Aufteilung des Raumes, der erst Orte schafft und das Spiel der Räume ermöglicht, Erst die Markierung schafft einen konkreten Ort, erzeugt eine Cäsur innerhalb eines Raumes und macht den Ort ansprech- und bezeichenbar. Dieser Ort fügt gleichzeitig einen Standpunkt für das Individuum ein. Von diesem Standpunkt aus schafft es die Differenzierung zwischen "eigenem" und anderem Ort. Gleichzeitig wird durch diese Differenzierung, die im weiteren das Resultat einer Handlung und neuerlich eines Gebrauchs ist, auch ein je spezifisches Verhältnis zwischen eigenem und anderem Ort begründet und bestimmt. Die Plattform ist wieder jener Ort, der quer zu liegen vermag gegenüber den konventionellen Funktionen öffentlicher Räume und gegenüber den Handlungsanweisungen, die mit solchen Funktionen verbunden sind. Eine punktuelle Autonomie wird errichtet und findet ihren Ausdruck im Gebrauch der Plattform.

Die Plattform errichtet also solche eingangs zitierten Orte, von denen aus das Subjekt in der Lage ist, eine besondere, eigenbestimmte Sicht- oder Handlunsweise auszuüben. Die Plattformen, als marginale Objekte jenseits jeden ästhetischen Aspekts, werden zu einem Vehikel der Konstruktion eines eigenen Ortes des Subjekts, an dem und von dem aus es über den spezifischen Gebrauch, den es von diesem Vehikel macht, in den Kontext des Ortes eingreifen, d. h. von diesem einen Ort aus sein Verhältnis zum Umraum - vorübergehend - beliebig definieren kann: beobachten, deklamieren, pausieren, posieren etc. Die Plattform stellt ein Podest für alle jene Handlungen dar, die sonst auch, an dieser oder anderen Stellen, vollzogen werden. Durch die Plattform wird aber der beliebige zu einem besonderen Ort, weil er als konkreter Ort der Handlung plötzlich benennbar wird: "wir treffen und bei meiner Plattform", "Ich beobachte/spreche von meiner Plattform aus". Die Verteilung der Plattformen im Stadtraum stellt - analog zur Verteilung der Wegmarken in Dortmund - selbst schon eine bestimmte Form der Ausdifferenzierung der städtischen Räume dar, spiegtl das Interesse an bestimmten Situationen, Konstellationen, richtet sich konkret auf andere Orte, auf Bauten, auf Objekte. Was das Projekt schon aktiviert, bevor es seine spezifische Form der Aktivität im Stadtraum ermöglicht, ist ein Sondieren, ein "Lesen" der Stadt im Hinblick auf eine Stelle, die durch die Plattform zu einem (persönlichen) Ort werden könnte. Insofern ist die Plattform schon Reaktion auf einen Raum, einen Ort, der der Schauplatz der möglichen Handlungen werden wird. Der Begriff "Intervention" richtet sich also wiederum nicht nur auf die auslösende Geste, d. h. auf die von Christian Hasucha hergestellten Objekte selbst, als vielmehr auf jene Praktiken der Teilnehmer, auf den Gebrauch oder Nicht-Gebrauch, den sie von diesem markierten und ausgezeichneten, weil erhöhten, Ort machen - und auf die Überlegungen, die zur Auswahl führen und die bereits eine Konsequenz anderer Handlungen, eines anderen Gebrauchs ist: ein Kommentar zum Stadtraum, seine Analyse, welche Stelle geeignet sein könnte für eine (meine) Exponierung.
Die Exponierung allein - eine Folge von 15 Zentimetern Höhendifferenz - setzt in jedem Fall schon ein Anderes voraus, gegenüber dem sich die Exponierung realisieren läßt, in das hinein sich die Exponierung und die Handlung richtet. Dieses andere - quasi der permanente Fluchtpunkt der Strategien, die Christian Hasucha betreibt - ist der öffentliche Raum, sind die Strukturen, Schemata und Standardisierungen, die ihn konstituieren. Der öffentliche Raum ist für Chrstian Hasucha dementsprechend kein architektonisches, städtebauliches Phänomen allein, sondern ein Gefüge von diversen Praktiken und Gewohnheiten, Automatismen, in jedem Fall ein Netz von Ereignissen und Handlungen, die gezielt oder quasi unbewußt vollzogen werden - ein psychogeografisches System. Christian Hasucha thematisiert also immer wieder diesen öffentlichen Raum, andererseits aber vor allem die vielschichtigen Verhältnisse des Individuums zu diesem Raum und die Parameter, die dieses Verhältnis bestimmen. Immer wieder zielt er auf die Veränderung von "Gleichungen, nach denen in urbanen Strukturen Regelkreise ineinandergeschaltet sind; er verschiebt somit im übertragenen Sinn Stellenwerte innerhalb eines Koordinatensystems von Wahrnehmung und Bewegungen mit den ihnen zugrundeliegenden Bedürfnissen und Notwendigkeiten."7
Die Plattform ist also ein Ort, der Praktiken ermöglicht und auslöst, durch die sich die Benützer dem Gefüge des öffentlichen Raumes aussetzen, gleichzeitig aber eine vorübergehende Verfügung über diesen Raum in Szene setzen können. Das Individuum erfährt sich nicht mehr allein als eines, das durch den Ort definiert oder konditioniert wird, sondern als dasjenige Moment, das den Ort vorübergehend - von seinem Rand her, quasi aus einem Off - anders zu definieren in der Lage ist: mitten auf einer belebten Kreuzung könnte sie etwa einen Aussichtspunkt darstellen, von dem aus in aller Ruhe das Treiben beobachtet werden kann, dem sich die- oder derjenige dadurch kurzzeitig entziehen kann. Was die Plattform initiiert, ist eine Aneignung, die den Ort transformiert, die einen neuen Spielraum im Gebrauch des Ortes einführt. Dieser Spielraum, in den das Individuum interveniert, eröffnet eine neue Verknüpfung des konkreten (persönlichen) Ortes mit dem öffentlichen Raum, eine Verknüpfung, die über die Handlung des Subjekts realisiert wird, das sich dabei kurzzeitig in ein Zentrum setzt. Die Intervention wird zu einer Geste, die Aufmerksamkeit erregt. Die Plattform erscheint als eine implantierte Schnittstelle, an der sich wiederum eine Interaktion abzeichnet und neu bestimmen läßt, für die Christian Hasucha eine modellhafte Situation inszeniert: "Unter geeigneten Umständen können innerhalb der uns umgebenden, uns determinierenden Parameter einige Beispiele subjektiven Mitteilens realisiert werden" (Christian Hasucha).

An der Präsentation im Kunstverein zeigt sich allerdings, daß eine solche Strategie in konventionellen Ausstellungsräumen nicht realisiert werden kann. Es zeigt sich deren konstitutive Fremdheit gegenüber Öffentlichkeitsformen, an denen Christian Hasucha interessiert ist: das Erscheinungsbild, die Strukturzusammenhänge und die Mechanismen des Alltagsgeschehens. Aus diesem Grund reflektiert die Ausstellung, obwohl sie sich auf jene Intervention in Graz richtet, auch zentral jenen Ausstellungs-Kontext, der aus einem Prozeß ein Relikt, aus einem "Vehikel" ein Kunstobjekt und aus einer Form der Zerstreuung und der Flüchtigkeit eine Installation produziert. Es gibt hier keine flüchtigen oder zufälligen Dinge, selbst wenn sie verschwinden, prodzieren sie Spuren, die ihre Stelle einnehmen und eminent Bedeutung produzieren, Bedeutungen, die immer wieder auf Begriffe und Vorstellungen von Kunst konvergieren, die sich zwar prinzipiell alles angeeignet hat, die aber in dieser Aneignung nicht den Punkt erreicht, wo sie sich als Kunst negiert, ohne diese Negation wieder als Kunst zu etablieren. Als ein solches "autopoieitisches System" (Niklas Luhmann) mit hoher Selbstbezüglichkeit und Selbstreflexivität setzt sich der Kunst-Kontext geradezu in eine Opposition zum Alltag. Der Ausstellungsraum, die Galerie, das Museum sind sozusagen Leerstellen im Alltäglichen, die einen bestimmten konzentrierten Umgang mit Objekten und Ereignissen initiieren und in einer radikalen Aneignung jede Erscheinung dahingehend umbilden, Kunst zu werden. In dieser artifiziellen Beziehung zwischen Rezipient und Gegenstand seiner Aufmerksamkeit ist kein Platz für jene "unbewußten Praktiken eines alltäglichen Gebrauchs", jedes Details suggeriert Bedeutung und formale Intention, die entziffert und gedeutet werden will. Die Ausstellung ist kein Ort der diffusen Überlagerung diverser subjektiver Handlungen und Ereignisse, sondern einer der signifikanten Artefakte und kontrollierten Abläufe. Jeder "Chock", jede Irritation wird von dieser Vorraussetzung abgefangen. Insofern verhinderns sie gerade das Moment eines "konstruktiven Befremdens", auf das Christian Hasucha zielt. Insofern die Intervention also auf ganz andere Zusammenhänge zielt, ist sie hier nicht dokumentierbar. Was aber entsteht, ist eine neue Form von Zusammenhang aller Komponenten des Projekts, keine Rekonstruktion: die Plattform ist kein Gegenstand des Gebrauchs mehr, sondern ein Objekt-Zeichen, das Handlungsmoment ist durch eine weitere Zeichenform substituiert (die Fotografie) und der Vorgang der Auswahl, der Personalisierung der Plattform ist durch den Namen der vorübergehenden Eigentümer repräsentiert. Diese Konstellation ergibt ein abstraktes Schema von Verweisen, ihre Anordnung und Verteilung im Raum erzeugt eine ästhetische Dimension, die die Installation noch einmal von der Intervention abhebt. Die Präsentation muß also als eine eigenständige Arbeit gelesen werden, als ein Verweissystem, nicht als Repräsentation oder gar als Dokumentation, denn sonst verkennt man die grundlegenden Aspekte der Arbeit von Christian Hasucha seit mittlerweile 13 Jahren, Aspekte, um die auch der vorliegende Text kreiste, ohne sie abbilden zu können. Auch er ist nur ein solches Verweissystem auf jene komplexen individuellen Handlungen und Erfahrungen, die die "Öffentlichen Interventionen" provozieren und deren Wirkungsfeld "fast alle Bereiche der städtischen Öffentlichkeit berühren können" (Christian Hasucha).

1 Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 188.
2 Guy-Ernest Debord, "Theorie des Umherschweifens", in: Der große Schlaf und seine Kunden, Hamburg 1990, S. 33-40, S. 33.
3 Slavoj Zizek,
4Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 182.
5 Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 189.
6 Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988 (franz. Erstausgabe 1980), S. 88.
7 Jürgen Raap, "Implantate und Interventionen", in: Kunstforum International, Nr. 116, S. 330-339, S. 338.



© Reinhard Braun 1994

erschienen in:
Dortmunder Kunstverein (Hg.), Christian Hasucha, Interventionen, Dortmund 1995



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