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Featuring
¬ G.R.A.M.

Reinhard Braun
G.R.A.M. oder: Der Xeroxpunkt der Fotografie

Je unschärfer das Foto, desto glaubwürdiger ist die Geschichte, die es erzählt.

G.R.A.M., David Beckham, 1999

Eine Bild-Rhetorik wird zur sozialen Formation: Authentizität als Form des Entschwindens jeden Bildgegenstandes. Die Abwesenheit von Bild-Sinn wendet sich in unausgesetzte Bedeutungsproduktion. Personenkulte als Bildmaschinen. Massenbewegungen. Popkultur. Fußball.

Trotz - oder vielleicht gerade wegen - der zunehmenden Durchsetzung der (westlichen) Kultur mit telekommunikativen Medien, trotz Netz-Hype und E-Commerce erleben wir immer noch eine ungebremste Produktion eines Bildtypes, der bereits mehr als 150 Jahre Geschichte auf dem Rücken trägt: Fotografie. Totgesagt, revidiert, als Post-Phänomen re-diskursiviert, jenseits jeder Referenz operierend und als Medium seltsam anachronistisch ist etwa das erste Bild des Neugeborenen von Prinzessin Caroline mehrere Millionen Mark wert.

Was könnte uns das sagen? Nochmals über das Barthessche "punctum" nachdenken? Über seine Großmutter? Ist es so gewesen? Besteht eine geheimnisvolle Beziehung zwischen Referenten und Bild, das uns aufgrund dieses "Erstkontaktes" in seinen Bann zieht? Immerhin: David Beckham, Großbritanniens berühtmtester Ehemann und nebenbei Fußballstar, war in Graz.

Sondermaschine. Polizeiaufgebot. Absperrungen. Sündteures Pressematerial. Keine Interviews. Ein Training für die Presse als ritualisierte Inszenierung. Kreischende Teenager. Körper. Geschwindigkeit. Sprechgesänge. Keine Interviews. Nur Fotos. (Und, sagen wir es ehrlich, eine bittere 0:3 Niederlage. Immerhin konnte David Beckham Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil er während des Spiels in eine Beinahe-Schlägerei mit Roman Mählich verwickelt wurde. Vor über 16.000 Zuschauern. Er hätte aufreizend!? gespielt. Doch davon keine Fotos.)

G.R.A.M., David Beckham, 1999

Sind wir also über die Fotos dabeigewesen? Nehmen wir die Position des Fotografen/der Fotografin ein? Halluzinieren wir uns auf den Flughafen, keine fünf Meter von David entfernt? Ermöglichen uns diese Bilder, eine Geschichte zu rekonstruieren? Materialisiert sich in diesen Bildern eine Form des Begehrens an der Wirklichkeit? Oder bestätigen sie lediglich ein solches Begehren?

Zweifellos ist "Wirklichkeit" zu einer wertvollen Resource geworden. Die Frage ist nur, um welche Wirklichkeit es sich dabei handelt. Offensichtlich nehmen wir zu einer bestimmten Art von Pressefotografie (und auch zu ihrem künstlerischen Klon) ein vollkommen anderes Verhältnis ein als zu unseren eigenen Urlaubsbildern. Obwohl "es" in jedem Fall so gewesen ist. Es geht also ebenso offensichtlich nicht um Repräsentation. Es geht um kulturelle Kommunikation. Signifikation hat nichts mit Repräsentation zu tun. Wir sprechen von kulturellen Wertesystemen und ihrem Verhältnis zu semantischen Operationen.

"Deshalb ist alle Information auf Kategorisierungen angewiesen, die Möglichkeitsräume abstecken, in denen der Auswahlbereich für das, was als Kommunikation geschehen kann, vorstrukturiert ist. Das ist nur eine andere Formulierung für die These, dass der Code Information/Nichtinformation nicht genügt, sondern dass zusätzliche Programme erforderlich sind (...)." (Niklas Luhmann)

Wie gesagt, Unschärfe. Der schlechte Bildausschnitt, die Unter- oder Überbelichtung, das Fehlen von Tiefenschärfe. (Renger-Patzsch dreht sich im Grabe um.) All diese Faktoren erzeugen nicht nur Bilder, sie erzeugen vor allem eine spezifische Bedeutung: sie konstruieren einen Bildgegenstand, ein kulturelles Phantasma. Sie kommunizieren. Glamour. Reichtum. (Macht?) In jedem Fall sprechen sie von Differenzen, von sozialer Differenzierung, von einem anderen jenseits der eigenen Erfahrung. Die ungenaue Bildwiedergabe bestätigt sozusagen die ungenauen Kenntnisse über den Gegenstand (die Personen, die im eigentlichen Sinn zu Gegenständen werden: kuturelle Handelsware). Diese Bilder informieren. Sie etablieren Kategorien eines Diskurses über etwas, das wir mit unserer Wirklichkeit assoziieren (die sich uns ja ständig entzieht). Dies alle klingt einfach und klar. Damit ist aber auch ein Vieleck aus Zeichen, Medien und Codes eröffnet, ein komplexes kulturelles Verweissystem, in das jede Form von Bedeutungsproduktion überhaupt verstrickt ist.

David Beckham ist also (auch) eine Metapher. Eine Metapher für eine Story, vielleicht sogar eine Metapher für ein (gar nicht modernes) Märchen: Fussballstar (die besten Flanken der Insel) heiratet Musikidol (die besten PR-Manager/innen). Das klingt beinahe nach dem Zusammenschluss zweier Medienkonzerne. Entschlackt von jeder Komplexität finden sich hier zwei "Personen" (oder sollte man sagen: Figuren) als prototypische "Images". "Aller Selektion (...) liegt also ein Zusammen-hang von Kondensierung, Konfirmierung, Generalisierung und Schematisierung zugrunde, der sich in der Außenwelt, über die kommuniziert wird, so nicht findet. Das steckt hinter der These, dass erst die Kommunikation (oder eben: das System der Massenmedien) den Sachverhalten Bedeutung verleiht." (nochmals Niklas Luhmann)

Von welcher Außenwelt aber sprechen wir? Dem Grazer Flughafen? Der britischen "tabloid press"? David Beckham beim Kochen? "Sinnkondensate, Themen, Objekte entstehen, um es mit einem anderen Begriff zu formulieren, als 'Eigenwerte' des Systems massenmedialer Kommunikation. Sie (...) sind nicht darauf angewiesen, dass die Umwelt sie bestätigt." (ein letztes Mal Niklas Luhmann)/

Wenn man also sagen könnte (und wir haben das), diese Bilder (wir erinnern uns: unscharf, manchmal kaum etwas zu erkennen) informieren, worüber informieren sie dann? Man kann darauf unumwunden antworten: sie informieren darüber, wie Massenmedien in Kultur intervenieren, über ihre Mechanismen der Kondensierung, Selektion, Generalisierung und Schematisierung "etwas" produziert. Dieses "etwas" wird nach wie vor mit der Vorstellung von Wirklichkeit assoziiert. Und sie informieren darüber, wieweit sich diese Mechanismen als Mechanismen kultureller Kommunikation überhaupt etabliert haben (Medienviren?). Wenn Kommunikation als Zirkulieren von Mitteilungen bezeichnet werden kann, dann sind diese Mitteilungen immer schon mediale Konstrukte (etwa Fotografien). Und damit ist Wirklichkeit ein Produkt.

Es geht also bei der Person/der Figur/dem Schema "David Beckman" nicht um Repräsentation, nicht um Authentizität, es geht um Bezeichnungsleistungen, Prozesse der Signifikation. Jede Frage danach, ob diese Bilder ihn zeigen, etwas von ihm zeigen, ihn zu etwas machen, verwechselt zumindest Information mit Mitteilung. Diese Bilder informieren über kein Reales (David Beckham beim Training) - sie sind auf die Bestätigung der Umwelt (David Beckham und uns) nicht angewiesen. Sie produzieren aber Mitteilungen, semantische Konstruktionen, die uns als "David Beckham" erscheinen (eine "reale" Person). Hier geht es nicht um Bestätigung der Bilder durch Umwelt oder eine Bestätigung von Umwelt durch Bilder, sondern um eine Bestätigung von kultureller Kommunikation. "Die Masse hat keine Meinung und die Information informiert sie nicht: Auf monströse Art ernähren sie sich gegenseitig (...)" (Agentur Bilwet) Diese Bilder haben keinen Gegenstand (Referenz, Umwelt, Wirklichkeit), aber Addressaten. (Nicht, dass es David Beckham nicht gäbe, aber was spielt das letztendlich für eine Rolle? Man hätte ihn ohnehin erfinden müssen ...)

G.R.A.M., David Beckham, 1999

Diese Addressaten replizieren den Code der Bilder als etwas, das nur mit Wirklichkeit zu tun haben kann, weil schon abertausende von anderen gleichartigen Bildern einen Möglichkeitshorizont für diese Art Kommunikation abgesteckt, vermessen haben (eine Art Produktionsrahmen). Sie "sprechen" (um an das rhetorische Moment zu erinnern) von Augenblicken, von (scheinbar) bedeutungsvollen Momenten, in denen das Reale sozusagen auf dem Film kondensiert. Paradoxerweise vollzieht sich diese Kondensation (eine Schematisierung) nur unter der Voraussetzung, dass diese Bilder (und jedes Bild) unverhältnismässig mehr Information (oder Images) nicht abbilden, als sie in ihre medialen Rahmungen zwingen. Allein darin manifestiert sich die Differenz zwischen Repräsentation und Signifikation: Bilder, und namentlich fotografische Bilder, konstruieren höchst artifizielle Ausschnitte von Ansichten jenseits jeder Wahrnehumg. Der "decisive moment" (David Beckham beim Husten) existiert nicht jenseits der Medientechnik Fotografie. Ist die Wirklichkeit also ein Rohstoff, dann wird er in diesen Bildern gleichzeitig produziert, verarbeitet und kulturalisiert (zu einem Gegenstand kultureller Kommunikation).

Und wenn, zuguterletzt, Jean Baudrillard einmal den Xeroxpunkt der Kultur als Zustand eines Überflusses an Bildern, auf denen es nichts zu sehen gibt, definiert hat, dann können wir uns in punkto Fotografie diesem Befund nur anschliessen: es gibt auf diesen Fotografien nichts zu sehen - was wir nicht schon wüssten, was uns nicht schon unzählige andere Bilder erzählt hätten. Aber aus genau diesem Grund, weil es auf diesen Bildern nichts zu sehen gibt (und wir - Gott lob - die Grossmutter von Roland Barthes vergessen können) informieren sie: weil sie dadurch zum Träger von Projektionen werden, weil das, das sie bedeuten sollen, in gar keinem Widerstreit steht zu einem etwaigen Bildinhalt, der durch ästhetische Leerformeln evoziert wird. Diese Bilder zeugen von der Tabula rasa, der visuelle Produkte im Rahmen gegenwärtiger hochtechnisierter Gesellschaften unterzogen worden sind, eine Tabula rasa, die Redundanz in Information verkehrt - und dadurch die Produktion von Wirklichkeit erst ermöglicht.

"Oder es gibt trotz allem eine Kunst der Simulation, eine ironische Qualität, die mit jedem Mal den Schein der Welt wiedererstehen läßt, um ihn dann zu zerstören." (Jean Baudrillard revisited)



© Reinhard Braun 1999

erschienen in:
EIKON - Internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst, Nr. 30/1999



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